Es war einmal … Die Zitadelle der Götter (ursprünglicher Anfang)

Es war einmal … Die Zitadelle der Götter (ursprünglicher Anfang)

Ein Reisender wird euch erscheinen
Wenn eure Not am größten ist
Verrat und Zwietracht euch bedroht
Gefahr in fernen Ländern entsteht
In Usils Zitadelle ruht die Kraft
Von mächtiger Magie wird sie bewacht
Schlüssel ist der Ro’od
Rettung…

Fragment der Prophezeiung über den Ro’od

Ka’rak Altor war aufgeregt. Heute sollte er zum ersten Mal seine neue Aufgabe, den Gang zum Platz der Ankunft alleine machen. Die letzten sechs Jahre hatten er und sein Freund Verjak ihre neuen Aufgaben von Meister Gart gelernt und ihre Lehrzeit war nun vorbei.
Gart wurde langsam alt und der Weg zum Platz der Ankunft war zu weit und mühsam für Gart. Das hatten die Ältesten jedenfalls so beschlossen und deshalb musste Gart einige seiner Aufgaben an seine Gehilfen abgeben. Verjak und er sollten sich abwechseln und nachdem am Vortag Verjak das Glück hatte, die Vorväter ehren zu dürfen, war heute sein großer Tag.

In der letzten Nacht konnte Ka’rak vor Aufregung kaum ein Auge zutun. Die ganze Stadt würde ihn heute beobachten, während er durch das Nordtor aus dem Tempelbezirk durch das Marktviertel und schließlich durch das Zeremonientor die Kristallebene betreten würde. Natürlich kannte er das Gefühl, von allen Menschen beobachtet zu werden, denn er hatte oft genug zusammen mit Verjak Gart begleitet. Bei diesen Gelegenheiten galt die Aufmerksamkeit der Menge aber Gart in seinen prächtigen Gewändern mit dem reich verzierten Stab, dem Zeichen seines Amtes als Ratszauberer. Vor zwei Tagen hatte der Rat ihm einen eigenen Amtsstab zugestanden, Symbol für die erfolgreiche Beendigung seiner Lehrzeit. Nun war er ein Sagenkundiger, zwar noch weit entfernt vom Wissen und der Macht Garts, aber in einigen Jahren, wenn dieser sich endgültig aus seinem Amt zurückziehen würde, wären er oder Verjak der neue Ratszauberer mit all seinen Privilegien. Er durfte sich bis dahin nur keine Fehler erlauben. Fehler oder schlechter noch Versagen. Fehler wurden bestraft, aber meistens toleriert, Versagen war weitaus schlimmer und konnte allzu oft im Kerker oder gar auf dem Scheiterhaufen enden. Die Erinnerung an den letzten Sagenkundigen war noch allzu deutlich; Vor acht Jahren, als Ka’rak noch im Haus seiner Mutter lebte, hatte der designierte Nachfolger Garts, dessen eigener Enkel, seine Pflichten vernachlässigt. Eines Morgens versäumte er seinen Gang zum Ankunftsplatz weil er sich am Vorabend betrunken hatte und die ganze Nacht in den Wirtshäusern Zauberkunststücke vorgeführt hatte. Er hätte nur seinen Großvater bitten müssen, den Gang zu übernehmen, versäumte es jedoch. Bis dahin war es nur ein Fehler. Zum Versagen wurde es dadurch, dass an diesem Tag ein Mensch durch das Portal kam und im Netz gefangen wurde. Niemand überlebte länger als einen Tag im Netz. Während Garts Enkel zur Strafe in der Tempelküche Kessel und Schalen spülen musste, entdeckte Gart den Leichnam des Ankömmlings schwebend im Netz. Noch am selben Abend wurde die Strafe an seinem Enkel vollstreckt. Die Wache versammelte die gesamte Bevölkerung auf dem großen Platz zwischen dem Tempelbezirk und der Zitadelle im Stadtzentrum und nahm Garts Enkel erst den Namen, indem sie die weitere Benutzung bei Todesstrafe verbot und dann das Leben. Gart selbst musste den Scheiterhaufen anzünden. Bis dahin hatte er noch schwarze Haare, am nächsten morgen waren seine Haare schneeweiß. In nur einer Nacht war er scheinbar um mehrere Jahrzehnte gealtert.
Ka’raks Mutter hielt diese Strafe noch für zu gnädig. Seit mehreren hundert Jahren wartete das Volk von Anwardat auf einen Reisenden. Die alten Überlieferungen prophezeiten die Ankunft des Ro’od. Dieser Mensch sollte die Macht besitzen, die Zitadelle der Götter weit im Süden zu öffnen und die Magie der Götter zu entfesseln, um die Feinde zu bekämpfen. Anwardat hatte nur einen Feind, den Feind aller Menschen des Bundes – die Horde. Die Horde galt früher als etwas, mit dem man unartigen Kindern Angst machte, doch seit über zwanzig Jahren überzogen Trupps der Horde den Norden mit Tod und Verderben. Kaum ein Land blieb von Plünderungen verschont. Zahllose Dörfer und kleine Städte waren zerstört, die Bewohner umgebracht oder versklavt, fruchtbare Gebiete von ihren Bewohnern verlassen worden. Niemand wusste, woher die Plünderer kamen und wo die Heimat der Horde war. Alle Späher, die vom Rat des Bundes in den Süden gesandt wurden, verschwanden spurlos. Die Agenten des Rates waren ebenso erfolglos wie Seher und Magier bei ihren Versuchen, etwas über die Ziele der Horde herauszufinden. Die Horde kam, plünderte oder verwüstete und verschwand wieder, hinterließ nur endloses Leid und Elend und eine Spur aus Toten, die tief in der Wüste verschwand.
Aber heute würde er, Ka’rak, vielleicht den Ro’od, den Schlüssel, am Platz der Ankunft vorfinden und ihn in die Stadt bringen. Er war hin und her gerissen zwischen seiner Angst vor den vielen Beobachtern und der Möglichkeit, an etwas unglaublich Großem beteiligt zu sein. Zunächst musste Ka’rak aufstehen und etwas frühstücken. Es machte sicherlich keinen guten Eindruck, mit knurrendem Magen durch die Stadt zu gehen.
Ka’rak stand endlich auf, warf einen Blick aus dem Fenster und stellte erfreut fest, dass er noch reichlich Zeit hatte, sich zu waschen, ein Gebet an die Ahnen zu richten und anschließend im Speisesaal eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Er nahm seinen Krug und ging zum Brunnen im Hof vor den Quartieren der Schüler. Dabei musste er sich die größte Mühe geben, nicht rot zu werden, als er die ehrfürchtigen Blicke der übrigen Schüler bemerkte. Wenn bereits die Menschen, mit denen er die letzten Jahre beinahe jeden Tag verbracht hatte, ihn fürchteten und verehrten, was sollte dann erst vor dem Tempel geschehen? Seine Zuversicht verschwand nun völlig. Er stellte sich vor, wie er stolpern würde, während er durch die Strassen ging und ihn dann alle auslachen würden. Wie sollte er die nächsten Stunden nur überstehen? Am besten einen Schritt nach dem anderen, wie Gart es sie gelehrt hatte. Mit gefülltem Krug begab Ka’rak sich in sein Zimmer und wusch sich. Dabei betrachtete er sich in seinem blank polierten Schild. Mit seinen knapp über dreieinhalb Schritt Körpergröße – genauer gesagt dreieinhalb Schritt und eineinhalb Spannen – war er etwas größer als der Durchschnitt. Da er sich aber meistens nicht ganz aufrichtete, wirkte er wesentlich kleiner. Dazu kam, dass er entsetzlich dünn, eigentlich schon schmächtig war. Er konnte essen soviel er wollte, nie nahm er zu. Seine Glieder schienen zu lang für seinen Rumpf, sein Kopf zu schwer für seinen Körper zu sein. Aber für Ka’rak war sein Kopf das einzige Körperteil, mit dem er zufrieden war. An seinem Gesicht gab eigentlich nichts Bemerkenswertes, weder im positiven noch im negativen Sinn. Doch seine braunen Augen beherrschten sein Gesicht. Sie blickten ihm im Augenblick trotzig aus seinem Spiegel entgegen und drohten, von einer Strähne dunkelbraunen, beinahe schwarzen Haares bedeckt zu werden. Jedes Mal, wenn er sein Spiegelbild betrachtete, fragte Ka’rak sich wie es wäre, wenn sein übriger Körper zu seinem Kopf gepasst hätte. Er seufzte. Wie er mit seinen gerade achtzehn Jahren hier stand, wirkte er nicht wie ein Mann, der mit einem Winken seiner Hand und einigen gemurmelten Worten Menschen den Tod bringen konnte, sondern eher wie eine ängstliche Maus – immer bereit zur Flucht und auf der Suche nach einem Versteck. In seinem neuen Gewand fühlte er sich unwohl, da er sich darin noch schmächtiger vorkam, als er ohnehin schon war. Er fühlte sich regelrecht verloren in dessen gewaltiger Menge an prunkvollem Stoff. Gestern durfte die Menge Verjaks Auftritt bewundern, der, anders als Ka’rak, groß, breitschultrig und auf Frauen nahezu unwiderstehlich wirkte. Das einzige Gefühl, das Frauen ihm gegenüber entwickelten war Mitleid. Zumindest verdeckte der Berg von Stoff fast seinen ganzen Körper. Zum Glück wäre nur sein Kopf zu erkennen mit den in alle Richtungen stehenden Haaren. Egal, er würde noch in den Tempel der Ahnen gehen und beten; schaden könnte es nicht.
Mit dem Stab machte er sich auf den Weg und spürte dessen beruhigendes Gewicht in seiner linken Hand. Auf den Stab konnte er sich verlassen. Er gab ihm Sicherheit und verlieh ihm eine Autorität, die noch neu für ihn war. Stäbe wurden von wichtigen Würdenträgern getragen. Vor dem Eingang des Tempels kam ihm sein bester Freund Verjak entgegen. Verjak war knapp ein Jahr älter als Ka’rak und gemeinsam mit Ka’rak von Gart zum Sagenkundigen ausgebildet worden. Die Freundschaft der beiden ging so weit, dass ihr Verhältnis beinahe dem von Brüdern glich. Außenstehende waren jedes Mal überrascht, wenn sie erfuhren, dass Verjak und Ka’rak überhaupt Freunde waren, denn – zumindest äußerlich – konnten sich zwei Menschen kaum stärker unterscheiden. Verjak überragte mit seiner Größe von fast vier Schritt so gut wie jeden anderen im Tempelbezirk. Seine Gestalt mit dem muskulösen Körper und den breiten Schultern entsprach überhaupt nicht der allgemeinen Vorstellung von einem Magier, sondern eher zu der eines Schmieds oder Söldners. Wie sein hellblondes Haar und seine blassblauen Augen zeigten, stammten seine Vorfahren aus dem Osten Morwindels in der Nähe des Maurissees oder von der Nordküste des Golfs von Punvar. Verjaks blendendes Aussehen und sein scheinbar immerzu grinsendes Gesicht hatten ihn in den letzten Jahren zum Alptraum aller Väter werden lassen, deren hübsche Töchter Verjak begegneten. So sehr Ka’rak und Verjak sich äußerlich auch unterschieden, sie verstanden sich so gut, dass jeder die Gedanken des anderen erkennen konnte, bevor der sie aussprach. Nun stand Verjak vor Ka’rak und musterte ihn eindringlich.
„’Morgen, Ka’rak. Du siehst so aus, wie ich mich gestern gefühlt habe. Hast auch nicht geschlafen, oder?“

„Nicht richtig, ich fühle mich, als ob ich auf dem Weg zu meiner eigenen Hinrichtung wäre und mich noch darauf freuen sollte“

Verjak nickte verständnisvoll, während er ernst sagte: „Gart erzählte mir gestern Abend, das ginge jedem so. Ich musste mich sogar übergeben, nachdem ich außer Sichtweite der Stadt war.“
Feixend fügte er hinzu: „Iss also lieber heute morgen nur eine Suppe oder trink’ etwas Milch“

„Ich nehme deine Ratschläge dankbar an“, erklärte Ka’rak mit einem unsicheren Grinsen, „wünschte aber, es wäre schon vorbei. Die vielen Menschen machen mir Angst.“

Verjak schüttelte nur den Kopf, als er meinte: „Wenn das alles ist. Ich habe gestern keine Menschen bemerkt – ich war viel zu beschäftigt, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern.“
Nachdenklich fügte er hinzu: „Die Leute wollen nur ihren Enkeln von dem Tag berichten, als morgens der Ratszauberer oder ein Sagenkundiger zum Platz der Ankunft ging und mit dem Schlüssel, dem lange erwarteten Ro’od zurückkehrt. Du weißt ja selbst, wie übel es im Süden steht. Seit die Horde im Tal des Werewek eingefallen ist und den größten Teil der diesjährigen ernte vernichtet hat, könnte es zu einer Hungersnot kommen, sogar hier bei uns.“

„So schlimm wird es schon nicht werden. Der Sommer war weder zu heiß noch zu nass, es gab keine Stürme und auf den Feldern sieht es doch recht gut aus. Die Bauern machen einen glücklichen Eindruck, soweit ich sie auf dem Markt getroffen habe.“, warf Ka’rak ein.

„Jetzt wirkst du schon zuversichtlicher.“, freute sich Verjak. „Ich muss mich nun aber langsam bei Gart melden; er hat irgendetwas von einer anderen Seite der Medaille erwähnt und gemeint, heute würde ich den Preis des Ruhmes zahlen. Gart und seine ewigen Rätsel. Weißt Du, was er damit gemeint haben könnte?“

Zuversichtlicher erklärte Ka’rak: „Ja, freu’ dich auf einen langen Tag in der Bibliothek zwischen alten, staubigen Büchern in unverständlichen Sprachen. Gart hat mich gestern den ganzen Tag herumgescheucht und Notizen machen lassen. Er erwähnte noch nebenbei, dass wir noch immer nutzlose, faule Lehrlinge seien und nur weil wir einen Amtsstab hätten, uns nichts auf unsere Wichtigkeit einbilden müssten. Das Lernen habe erst begonnen.“
„Ich fürchte, wir werden noch all die verrückten Sprachen lernen müssen, die Gart sprechen kann“, meinte Ka’rak düster.

„Na wenn das keine tolle Neuigkeit ist. Vielleicht sollte ich mich doch freiwillig bei Marschall Ar’shok melden. Als Feldmagier oder Heiler braucht man zumindest keine fremden Sprachen zu können“, erklärte Verjak mit einem Achselzucken.

„Verjak, ich muss mich langsam beeilen. Sonst habe ich am Ende nichts im Bauch, das ich erbrechen könnte. Außerdem möchte ich vorher um den Beistand der Ahnen bitten.“

Verjak lachte über Ka’raks Scherz. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, schlug er Ka’rak auf den Rücken und sagte: „Dann wünsche ich dir viel Glück da draußen.“

„Danke“, sagte Ka’rak im Vorübergehen und versank wieder in seinen eigenen Gedanken.

Verjak schüttelte nur den Kopf und machte sich auf den Weg zu den Räumen von Meister Gart.

Dem Mann, der sich im schwachen Wind drehte, kam es vor, als befände er sich schon seit einer Ewigkeit zwischen den farbig pulsierenden Säulen. Er war an diesem Ort erwacht und konnte sich nicht bewegen. Außer seinen Augen hatte er keinerlei Kontrolle über seine Muskulatur. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer sehr viel Zeit damit verbracht, immer wieder auf seinen Kopf einzuschlagen. Er hörte die Geräusche von Tieren, die sich in der Nähe aufhielten, hatte aber noch keines gesehen. Seit er erwacht war, hatte er sich gefragt, wie er an diesen seltsamen Ort kam. Wenn er sich anstrengte, glaubte er sich an andere Dinge erinnern zu können. An eine Stadt voller Türme, die bis in den Himmel reichten, breite Alleen, auf denen sich lachende Menschen ohne Eile inmitten pferdeloser Kutschen bewegten. Der Himmel in seinen Erinnerungen war von einem tieferen blau als der Himmel, den er über sich erkennen konnte. Außerdem hatten den anderen Himmel kreuz und quer weiße Streifen durchzogen. Die Klarheit der Bilder verwirrte ihn. Er wusste, dass es keinen Ort geben konnte, in dem solche Gebäude standen. Es war unmöglich, eine Kutsche zu bewegen ohne dass sie gezogen oder geschoben wurde. Wahrscheinlich hatte er alles geträumt. Wer konnte schon mit Bestimmtheit sagen, welche bizarren Träume man nach einem harten Schlag auf den Kopf bekam. Es musste ein Schlag gewesen sein, da er sich noch nicht einmal mehr an seinen Namen erinnerte. Aber vielleicht träumte er auch gerade jetzt. Das würde erklären, warum er das Blau des Himmels über sich als zu blass empfand und die Tatsache, dass er mitten auf einer Lichtung im Wald schwebte. Wenn dies hier aber ein Traum war, dann war es mit Sicherheit der verrückteste Traum, den er jemals gehabt hatte. Der Mann hatte nur den Wunsch, endlich zu wissen, was Illusion und was Wirklichkeit war. Er versuchte sich gerade wieder an seinen Namen zu erinnern, als er plötzlich fiel und hart mit seinem Kopf auf den Boden prallte.

„Ka’rak!“, rief Gart quer über den Innenhof des großen Tempels des Schöpfers Usil und eilte in Ka’raks Richtung, ohne auf seinen hohen Rang zu achten. Trotz seines Alters von fünfundsiebzig Jahren war Gart immer noch eine beeindruckende Erscheinung. Seine Haltung war aufrecht, was durch seine Schlankheit noch betont wurde, und wenn er wütend war, schien er häufig sogar Verjak zu überragen, obwohl seine Größe kaum dreieinhalb Schritt betrug. Ka’rak vermutete, dass Gart dazu entweder einen Bann einsetzte, der seine Schüler verwirren sollte oder einen anderen Kunstgriff, war sich aber keineswegs sicher. Heute trug Gart seine prachtvoll bestickte Amtsrobe, die – wie bei Gart üblich – zerknittert und nachlässig an ihm herabhing. Dieser unordentliche Eindruck wurde noch durch seine schulterlangen, schneeweißen Haare die stets ungekämmt von seinem Kopf abstanden. Auf einen flüchtigen Betrachter wirkte Gart zerstreut oder sogar verwirrt. Nahm man sich aber etwas Zeit und betrachtete seine Miene genauer, entdeckte man unwillkürlich Garts graue Augen, deren jugendlicher Glanz in auffallendem Missverhältnis zu den unzähligen Falten stand, die sich im Laufe der Zeit in sein Gesicht eingegraben hatten. Gart konnte – je nach Anlass – Furcht einflößend oder großväterlich gutmütig auf sein Gegenüber wirken, je nachdem ob er sich ein runzliges Lächeln gestattete oder sie seinen stetigen Blick ohne jegliche Spur von Humor auf seinem Gegenüber verweilen ließ. Ka’rak blieb sofort stehen und fragte sich stirnrunzelnd, was ihn nun erwartete. Er hatte – soweit er es wusste – nichts falsch gemacht. Sein Gewand war sauber, er hatte den Stab bei sich und war weder gerannt noch über seine Füße gestolpert. Weshalb benahm Gart sich also derart seltsam?
Nachdem Gart sich bis auf einige Meter genähert hatte, machte Ka’rak eine tiefe Verbeugung und begrüßte Gart mit der ihm zustehenden Begrüßungsformel: „Ehre und Weisheit dem Rat“

Gart nickte nur ungeduldig und bedeutete ihm mit einem Winken seiner Hand, ihm zu folgen.

Im Schatten der Ostmauer wies er Ka’rak an, sich auf eine der Steinbänke zu setzen und betrachtete ihn dabei kritisch.
Ka’rak beschloss, lieber nichts zu sagen und abzuwarten. In den vergangenen sechs Jahren hatte er genug Marotten seines Meisters kennen gelernt und fügte in Gedanken der langen Liste eine neue hinzu.
Nachdem Gart erkannte, dass Ka’rak scheinbar nicht das Gespräch eröffnen würde, erklärte er: „Du bist geduldig. Damit besitzt Du eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein Mann beherrschen sollte.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Verjak würde schon lange auf der Bank herumrutschen und hätte alle Verfehlungen gestanden, die er in seinem Leben je begehen wollte.“
Sollte das ein Lob von Gart werden? Oder eine Belehrung? Ka’rak beschloss, dankbar zu nicken und nachzufragen. Schließlich hatte Gart ihn gelehrt, dass es ein Zeichen von Ignoranz und Dummheit wäre, keine Fragen zu stellen und Wissen vorzutäuschen.
„Vielen Dank, Meister Gart. Ihr ehrt mich mit diesen Worten. Trotzdem bin ich verwirrt. Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein, Ka’rak. Ganz im Gegenteil. Ich wollte dir nur sagen, wie sehr Du mich an deinen Vater erinnerst. Dein Vater wäre stolz auf dich, wenn er dich sehen könnte.“
Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, mit der Ka’rak niemals gerechnet hätte. Von seinem Vater Alsok wusste er außer seinem Namen so gut wie nichts.
„Leider habe ich meinen Vater nie kennen gelernt und meine Mutter hat mir fast nie etwas über ihn erzählt.“
„Ich kann deine Mutter verstehen. Marja und Alsok waren erst acht Wochen vermählt, als Alsok in den Süden aufbrach.“
„Warum ist er in den Süden gegangen?“
„Dein Vater hielt es für seine Pflicht, einen Trupp Kundschafter zu begleiten. Immerhin war er einer unserer begabtesten Magier und wollte die Erfolgsaussichten der Gruppe erhöhen. Marja kam nicht darüber hinweg, dass er seine Pflicht gegenüber seinem Land über ihr Glück stellte. Als wir dann nichts mehr von ihm hörten, wurde es nur noch schlimmer. Marja sagte jedem, er hätte sein Leben für nichts und wieder nichts geopfert. Vielleicht hatte sie damit sogar Recht. Er würde heute wahrscheinlich eine hohe Stellung im Rat der Alten oder wenigstens im Rat des Bundes bekleiden.“
Mit einem Lächeln blickte Gart in Ka’raks Gesicht. „Alsok konnte sehr hartnäckig sein. Ständig stellte er alles in Frage, konnte aber mit vernünftigen Argumenten überzeugt werden. Und er konnte jederzeit zugeben, etwas nicht zu wissen. Eine Eigenschaft, die du offenbar von ihm geerbt hast.“
Während Gart versonnen über den großen Platz blickte, fragte Ka’rak: „Dann habt ihr meinen Vater gut gekannt?“
„Ja. Mein Sohn und er waren gute Freunde. Branis, Alsok und Jackis, Verjaks Vater waren fast unzertrennlich. Jackis hatte den Weg des Heilers und Feldmagiers gewählt, Branis war auf dem besten Weg, General zu werden und dein Vater stand kurz vor seiner Aufnahme in den Rat. Als Jackis und Alsok hörten, dass Branis einen Kundschaftertrupp anführen wollte, konnte nichts die beiden davon abhalten, ihn zu begleiten. Sie verließen ihre Familien, brachen mit zweihundert unserer besten Kämpfer auf und wurden zuletzt gesehen, als sie nach einem Überfall der Horde auf Haggisville in Kaylisia den Spuren der Schlächter folgten. Niemand versteht, wie es möglich war, dass gerade diese Gruppe spurlos verschwinden konnte. Es gab keinerlei Hinweise auf Kämpfe in der Wüste. Einfach gar nichts. Wir wissen viel zu wenig über die Horde.“
„Vielleicht hat man sie Nachts überfallen.“, schlug Ka’rak vorsichtig vor. Wenn Gart freiwillig etwas erzählte, durfte er ihn auf keinen Fall verärgern.
Stolz erwiderte Gart: „Überfallen vielleicht, aber nicht überwältigt. Branis konnte nicht so schnell aufsteigen, nur weil er zufällig der Sohn des Ratszauberers war.“
Schmunzelnd ergänzte er: „Na ja, jedenfalls nicht nur. Man hielt ihn für einen der besten Taktiker und für einen fast schon genialen Strategen. Außerdem ist es nicht leicht, unbemerkt die Banne zu überwinden, die ein Lager umgeben, in dem sich drei voll ausgebildete Magier aufhalten.“
Ka’rak konnte die Müdigkeit in Garts Zügen erkennen. In ruhigen Momenten, wenn der Druck seines Amts von seinen Schultern fiel, sah man Gart jedes einzelne der sechsundvierzig Jahre an, die er Ratszauberer war. Und wie es schien, hatte jeder einzelne Tag aus schlechten Nachrichten, harten Kämpfen und schwierigen Entscheidungen bestanden.
„Da du nun kein Lehrling mehr bist, kann ich dir einige unangenehme Informationen nicht länger vorenthalten. Nichts davon ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Die Strafe für Verrat ist dir bekannt?“
Vom plötzlichen Themenwechsel Garts wurde Ka’rak vollständig überrascht. Hatte Gart eben noch alt ausgesehen, wirkte er jetzt ernst und düster. Der Kloß in Ka’raks Hals verhinderte, dass er sprechen konnte. Deshalb nickte er nur. Ihm wurde kalt. Auf Verrat stand nicht einfach Tod. Verräter wurden mit Hilfe von Magie am Leben gehalten, während sie zu Tode gefoltert wurden. Verjaks Mutter hatte ihnen einmal von der Hinrichtung eines Verräters erzählt. Als er sterben durfte, war fast nichts mehr von seinem Körper übrig.
„Als Ratszauberer gehört es zu meinen Aufgaben, herauszufinden, wer später in der Lage sein wird, Verantwortung zu übernehmen. Du gehörst, genau wie Verjak, zu diesen Menschen. Verjak weiß seit gestern Bescheid. Ihr könnt euch vertraulich über alles Gesagte unterhalten. Aber denkt daran, dass Wände manchmal Ohren haben.“
Nach einer kurzen Pause fuhr Gart fort: „Zunächst solltest du die Wahrheit über die Horde erfahren. Obwohl die Horde schon seit eintausend Jahren immer wieder im Norden eingefallen ist, dabei Angst und Schrecken verbreitet hat, hat sie sich jedes Mal zurückgezogen und blieb verschwunden. Es ist jedoch noch niemals gelungen, einen Angehörigen der Horde lebend zu fangen. Sobald sie gefangen werden, sterben sie aus irgendeinem Grund. Es gab auch nie einen Verräter aus der Horde.“
Ka’rak erkannte die Wut in seiner Stimme, als er hinzufügte: „Ganz im Gegensatz zu unserer Seite.“
„Wir wissen eigentlich nur, dass es Menschen sind, die genauso sterben wie alle anderen. Damit erschöpft sich unser Wissen bereits. Nicht viel für über tausend Jahre“
„Aber wie ist das möglich? Kein Mensch stirbt einfach so. Magie?“
Gart zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht. Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Wenn es Magie ist, dann ist es ein sehr mächtiger Bann. In den letzten dreißig Jahren hat sich auch die Vorgehensweise der Horde geändert. Branis hat sich durch die alten Berichte gearbeitet. Früher hat die Horde geplündert und manchmal Menschen verschleppt. Die Trupps waren recht klein und richteten kaum Schäden an. Sicherlich war es für die Betroffenen hart, aber es war kein Land ernsthaft bedroht. Heute schlagen große Trupps, fast schon kleine Heere, zu und zerstören Ortschaften oder ganze Ernten. Sie schlachten die Bewohner ohne Rücksicht ab und entvölkern ganze Landstriche. Obwohl alle freien Länder heute im Bund zusammenarbeiten, wächst der Druck weiter. Die südlichen Königreiche werden regelrecht ausgeblutet. Befestigte Städte sind die einzigen Orte, die vor Übergriffen sicher sind, also fliehen die Bauern vom Land. Jederzeit könnten dort Seuchen ausbrechen oder Hungersnöte. Dadurch würde die Lage schwieriger, aber außer größerem Elend wird der Bund nicht bedroht. Branis erkannte zwar die Vorgehensweise, konnte aber nicht erkennen, worin das Ziel der Horde besteht. Die Horde verfügt über kampferprobte Männer. Bei jedem Überfall verlieren sie Männer und Pferde. Auf der anderen Seite schwächen sie unsere Truppen nicht; eher ist das Gegenteil der Fall. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit wachsen mit jedem Überfall. Rache und Wut sind mächtige Verbündeter im Kampf gegen die Horde. Außerdem werden die Länder des Bundes mit jedem Überfall enger zusammengeschweißt“
Langsam bekam Ka’rak Kopfschmerzen. Mit seinen Worten brachte Gart Ka’raks ganze Sicht der Dinge durcheinander. Im Tempelbezirk war er zwar nicht völlig von der Außenwelt isoliert, aber Neuigkeiten beschränkten sich meist auf Klatsch über die Ratsmitglieder oder andere Lehrlinge. Über die Horde erfuhr man nur, dass in fernen Ländern Unrecht geschah. Anwardat war weit von diesen Orten entfernt, deren Namen man – wenn überhaupt – höchstens von Karten kannte. Manchmal hatte er sich in seinen Träumen vorgestellt, wie es wäre, der Horde gegenüber zu stehen, als gefeierter Anführer siegreicher Truppen. Aber das, was Gart ihm hier eröffnete, deckte sich überhaupt nicht mit seinen Vorstellungen von ruhmreichen Kämpfen gegen einen mächtigen Feind. Er konnte nur den Kopf schütteln.
Es war eine große Ehre, vom Rat ins Vertrauen gezogen zu werden, dennoch beruhigte ihn dieses Vertrauen überhaupt nicht. Sein Leben veränderte sich. Natürlich gehörte es zum Erwachsenwerden, Verantwortung zu übernehmen. Aber doch nicht so schnell. Noch vor drei Tagen hatten er und Verjak mit den übrigen Lehrlingen Ball gespielt, heute sollten sie Geheimnisse bewahren. Was war nur geschehen? Warum ausgerechnet jetzt? Als ob seine Sorge über die Aufmerksamkeit der Menschen vor dem Tor nicht genug wäre.
„Warum erzählt ihr mir das alles, Meister? Ich wüsste nicht, wie ich euch dabei helfen könnte. Viele Menschen, die wesentlich mehr Erfahrung als ich besitzen, befassen sich sicherlich mit den Problemen, während ich mich mit Strategie und Taktik kaum beschäftigt habe. In diesen Dingen kennt sich Verjak viel besser aus.“
„Du stellst gute Fragen.“, gab Gart mit einem gerissenen Grinsen zu.
„Aber unterschätze niemals deine Fähigkeiten. Ich erzähle dir das nur deshalb, damit du erkennst, welche Bedeutung der Ro’od haben könnte. Der Rat ist uneins darüber. Einige Räte glauben, der Schlüssel würde die Bedrohung durch die Horde beenden. Eine andere Gruppe glaubt, es sei nur eine alte Legende ohne Bedeutung, während wenige glauben, hinter der Horde könnte etwas viel gefährlicheres lauern.“
„Und was glaubt ihr?“
Gart musste schallend lachen – und verschluckte sich prompt. Im Rat würde niemand ihn so direkt nach seiner Meinung fragen. Nachdem der Hustenanfall vorbei war, antwortete er: „Ich weiß es nicht genau, aber nur Narren lassen sich von Wunschdenken leiten. Da man mich im Rat oft als Schwarzseher bezeichnet, muss ich wohl der letzten Gruppe angehören. Außerdem weiß niemand, was wirklich im Süden der Wüste liegt. Wir Menschen waren nicht immer so mächtig wie heute.“
„Unsere Vorfahren kamen also wirklich durch das Portal am Platz der Ankunft?“
„Ja, durch dieses Portal und durch andere wie dieses. Nur kamen sie nicht freiwillig, sondern wurden geholt.“
„Macht das einen Unterschied?“
„Natürlich. Vor langer Zeit war die Welt von den Alten besiedelt. Sie schafften die Tore und konnten mit deren Hilfe in andere Welten reisen. In den längst vergessenen Sagen heißt es, die Alten hätten ewig gelebt, was sicher übertrieben ist, aber auch unsere durch die Tore angekommenen Vorfahren lebten angeblich sehr lange. Jedenfalls dienten damals die Menschen den Alten, bis es zu einem großen Aufstand kam und die Welt für hunderte von Jahren im Chaos versank. Seitdem wurden keine Alten mehr gesehen, jedenfalls nicht im Norden, und die Menschen gründeten ihre verschiedenen Reiche. Im Süden der Wüste könnte es durchaus noch Alte geben mit all ihrer Macht. Verglichen damit wäre die Horde nichts weiter als ein kleines Ärgernis.“
Ka’rak hatte die Alten bis dahin für etwas wie Götter gehalten, die den Menschen geholfen hatten. Und plötzlich stellte sich heraus, dass die Alten eine weitere mögliche Bedrohung darstellten. Was würde an diesem Tag noch geschehen?
„Wenn die Alten so lange verschwunden sind, werden sie wohl kaum ausgerechnet jetzt auftauchen. Ihr macht euch zu viele Sorgen.“
„Das bezweifle ich. Was weißt du über deine magischen Fähigkeiten?“
Ka’rak musste unwillkürlich einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen. Endlich sprach Gart etwas an, mit dem Ka’rak sich auskannte. Schließlich hatte man ihm alles über Magie beigebracht, seit sich seine Begabung zum ersten Mal gezeigt hatte. Also antwortete er:
„Manche Menschen werden mit einer starken Begabung geboren. Oft waren ihre Eltern bereits Magier. Generell haben wir alle in gewissem Ausmaß magische Fähigkeiten. Meistens entwickeln sie sich jedoch erst relativ spät im Leben.“
Gart nickte zufrieden.
„So wird es gelehrt. Warum, glaubst du, haben fast alle alten Leute eine, wenn auch beschränkte, Begabung?“
„Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“
„Verständlich, da für uns Magie so selbstverständlich ist wie für andere Menschen das Atmen. In einigen der ältesten Aufzeichnungen heißt es, diese Welt gäbe allen Wesen ihre Magie. Je länger ein Wesen hier lebt, umso stärker nimmt sein magisches Potenzial zu.“
Nun musste Ka’rak lachen.
„Dann müssen die kaylisischen Schildkröten aber mächtige Zauberer sein, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen. Immerhin wurden schon Exemplare gefangen, die zweihundert Jahre alt waren.“
Verärgert sprang Gart von der Bank auf, schien vor Ka’rak zu wachsen und ließ die Marmorbank, auf der er noch einen Augenblick zuvor gesessen hatte, mit einem dröhnenden Donnerschlag zu Sand zerfallen.
Sofort verging Ka’rak jeder Gedanke an weiteres Gelächter. Gart war noch nie sehr geduldig gewesen aber so wütend wie jetzt hatte er ihn noch niemals erlebt. Sofort sprang er von der Bank und entschuldigte sich mit einer tiefen Verbeugung:
„Entschuldigt meine Unwissenheit, Meister Gart. Ich habe mich und meine Stellung vergessen.“
„Schon gut.“, erwiderte Gart mit einem ruhig. „Was ich dir zu erklären versuche ist wichtig. Du musst es begreifen. Dein Leben könnte davon abhängen. Deine Schildkröten haben tatsächlich große magische Kräfte. Sie können sie einfach nicht benutzen, jedenfalls nicht bewusst. Kannst Du dir eine Rasse vorstellen, die viel länger als wir Menschen auf dieser Welt lebt, ebenso intelligent wie wir ist und die vielleicht mehrere hundert Jahre alt werden kann.“
Nach Garts Ausbruch starrte Ka’rak nur auf den Staubhaufen und schüttelte den Kopf.
Sichtlich zufrieden meinte Gart: „Auf alle Menschen, die durch das Portal kommen, scheint einen Teil von dessen Magie überzugehen und sie haben Fähigkeiten, die weit über deine oder sogar meine Möglichkeiten hinausgehen. Das steht wenigstens in einigen Büchern. Darum kontrollieren wir jeden Tag den Platz.“
„Es könnte allerdings schon zu spät sein und der Ankömmling vor fünf Jahren war unsere einzige Chance. Vergiss deine Pflichten nicht und erfülle sie sorgfältig.“
Mit diesen Worten drehte Gart sich um und ging langsam in Richtung Bibliothek davon. Ka’rak wusste nicht mehr, was er denken sollte. Jetzt gesellte sich zu seiner Nervosität auch noch nackte Panik zu versagen.
Resigniert machte sich Ka’rak auf den Weg zum Nordtor. Es war höchste Zeit. Er musste gehen.

Als Ka’rak sich dem Nordtor näherte, konnte er deutlich den Lärm der Händler und Kunden auf dem Markt hören. Während im Tempelbezirk nur leise gesprochen wurde und sich scheinbar alle mit langsamen, genau abgemessenen Schritten zielstrebig durch Gänge und über Höfe bewegten, drang durch die Tore das wirkliche Leben im Tempelbezirk ein. Draußen feilschten die Menschen, lachten und unterhielten sich über Dinge des täglichen Lebens. Ihm kam es fast vor, als ob das Leben im Marktviertel intensiver wäre. Ein Windstoß brachte einen Schwall von Essensdüften und weniger aromatische Gerüche mit sich, dazu unverständliche Fetzen in der Nähe geführter Gespräche.
Nur noch ein Paar Schritte und er würde in diese andere Welt eintauchen. Also setzte Ka’rak schon den maskenhaften Gesichtsausdruck auf, der keinerlei Gefühle verriet. Schließlich sollte kein gewöhnlicher Bürger erfahren, dass er am liebsten im Boden versunken wäre und vor Angst fast zitterte.

Beim Betreten des Marktplatzes wurden die Geräusche der Menge leiser. Es wirkte fast so, als entfernte er sich schnell von der Menge und nicht, als durchquerte er sie. Ka’rak richtete seinen Blick starr geradeaus auf das Zeremonientor, das er in der Ferne erkannte. An den Mauern des Tores glitzerte die vergoldetete Darstellung der Ankunft des Menschen in der morgendlichen Sonne. Die Menge wich vor ihm zurück. Am Rand der freien Gasse verbeugten sich einige Personen vor ihm. Andere nickten ihm zu, aber er konnte die Blicke all dieser Leute fast körperlich spüren. Vorgestern hätte ihn noch niemand beachtet, heute dagegen schienen sie beinahe Angst vor ihm zu haben. Das war nicht nur Respekt, es war wirkliche Angst, die viele Menschen vor Magiern hatten. In den Augen dieser Leute war er gefährlich. Er besaß Magie, gefährliche Magie, die er jederzeit entfesseln konnte. „Menschen fürchten die Dinge am meisten, von denen sie nur die Wirkung wahrnehmen, nicht aber die Funktionsweise verstehen“, hatte Gart im Unterricht gesagt. In diesem Moment verstand Ka’rak die Weisheit dieser Lehre. Für ihn war Magie selbstverständlich, er benutzte sie fast jeden Tag, für die meisten Händler und Kunden des Marktes war sie fremd. Zauberei konnte heilen, das Leben verlängern. Aber ebenso oft wurde Magie in Kämpfen benutzt, um Tod und Zerstörung in die Reihen der Feinde zu tragen. Die heilbringende Seite war unauffällig, die vernichtende Seite der Zauberei hingegen sehr spektakulär. Am liebsten hätte Ka’rak erleichtert aufgeatmet, erkannte er nun doch, dass keiner der hier Versammelten gelacht hätte, wäre er gestolpert oder hingefallen. Sie hatten noch mehr Angst als er. Das Gefühl der Macht war einerseits berauschend, andererseits war er mitverantwortlich für das Wohlergehen all dieser Bürger. Wie alle Magier hatte er sich dazu verpflichtet, seine Kunst zum Wohle des Volkes von Morwindel und aller Angehörigen des Bundes einzusetzen.
Vertieft in seine neuen Erkenntnisse hatte Ka’rak sich dem Zeremonientor genähert. Die Wachen öffneten die Tore in dem reich verzierten Bauwerk, traten beiseite und salutierten dem neuen Sagenkundigen, indem sie kurz mit der rechten Faust einen Schlag an die linke Schulter andeuteten. Nachdem Ka’rak das Tor durchschritten hatte, schlossen sie die Tore wieder und entspannten sich sichtlich.
Vor dem Tor breitete sich bis zum Horizont eine Kristallebene aus, in der nichts außer braunem Gras zu wachsen schien. Ka’rak wusste, dass im sich die Ebene bis weit in den Norden und Osten erstreckte, wo sie schließlich ins Gebirge und die große Öde überging. Im Westen wurde sie durch den Fluss Anward, im Süden durch den Morwind begrenzt. Am Zusammenfluss des Anward mit dem Morwind lag Anwardat, Sitz des Rates von Morwindel.
Anwardat war nicht die größte, sicherlich aber die wichtigste Stadt des Landes. Immerhin beherbergte sie den Rat und das größte Zentrum zur Ausbildung von Magiern in ganz Morwindel.
Ka’rak blickte auf die Ebene hinaus. Die Kristallebene war völlig flach, außer dem grünen Hügel, der sich in fünfzehn Ligs Entfernung im Norden erhob, seinem Ziel. Mit knirschenden Schritten machte er sich auf den Weg und versuchte, den vom böigen Wind aufgewirbelten Kristallstaub zu ignorieren, der in seinen Augen brannte.

Als sein Schatten schon fast nicht mehr zu sehen war, erreichte Ka’rak den Fuß des Hügels. Es war fast ein Wunder, inmitten der lebensfeindlichen Ebene einen schattigen Wald zu betreten. Der Hügel wurde von uralten Bäumen bedeckt, die nur einen kleinen Kreis auf der Hügelkuppe freiließen. Das dichte Laubwerk schluckte fast alles Licht und der Pfad zur Hügelkuppe versank im Dämmerlicht. Ka’rak konnte nicht einmal vierzig Schritt weit sehen.
Nach kurzer Zeit erkannte er die Lichtung auf der Spitze des Hügels, den Platz der Ankunft. Im Zentrum des Kreises erhoben sich drei runde Säulen am Rand einer runden Plattform aus grünem Kristall von ungefähr zwanzig Schritt Durchmesser. Jede der Säulen war zehn Schritt hoch und schien von innen heraus zu leuchten. Beim Näher kommen stellte Ka’rak fest, dass etwas nicht stimmte. Die Säulen leuchteten viel zu stark, sie schienen beinahe zu glühen und wechselten ständig ihre Farben von Blau zu einem grellen rot.
Der Grund dafür musste sein, dass jemand durch das Portal gekommen war. Ka’rak konnte sich vor Aufregung kaum auf den Beinen halten. Sein Traum hatte sich erfüllt. Er wäre derjenige, der den Retter nach Anwardat bringen würde. Mit dem heutigen Tag würden alle Menschen Ka’rak Altor kennen.
Entschlossenen Schrittes trat er auf die Lichtung und sah den Mann, der auf der grünen Kristallplatte lag. Er wollte gerade mit einer komplizierten Handbewegung den Bann neutralisieren, der den Mann festhielt, als er plötzlich bemerkte, was nicht stimmte. Das Netz war schon zerrissen. Der Mann hätte schweben müssen. Der Bann um das Portal war so beschaffen, dass er jedes Wesen, das hindurch kam, festhielt und ohnmächtig werden ließ, um ihm die Schmerzen, die durch die Berührung einer so alten und mächtigen Magie hervorgerufen wurden, erträglich zu machen. Gart hatte ihm erklärt, dass es unmöglich wäre, den Bann zu durchbrechen. Doch der Bann war durchbrochen worden. Vielleicht war der Ro’od gestorben. Mit zwei großen Schritten war Ka’rak bei dem Mann und konnte erleichtert feststellen, dass er gleichmäßig atmete.
Nun erst sah Ka’rak sich den Mann genauer an. Er war von unbestimmbarem Alter, hatte weder einen Bart noch sonst irgendwelchen Haare am Kopf. Solch einen Menschen hatte Ka’rak noch niemals gesehen. Vielleicht war er gar kein Mensch. Auch seine Kleidung gab keine Hinweise auf seine Herkunft, eine schwarze Hose aus grobem Stoff und ein ebenso schwarzes Hemd. Dazu war er barfuss.
Er wirkte wie ein Fremdkörper auf der friedlichen Lichtung, schien förmlich das Licht zu absorbieren und die Ruhe dieses heiligen Platzes zu entweihen. Das musste wohl an der seltsamen Kleidung liegen.
Ka’rak überlegte, was er jetzt zu tun hatte. Gart hatte seinen Lehrlingen eingebläut, wie sie sich einem Ankömmling gegenüber zu verhalten hatten. Zunächst sollte das Netz neutralisiert werden. Das hatte sich wohl von selbst erledigt, überlegte Ka’rak. Danach musste der Ankömmling in die Stadt gebracht werden. Hierzu konnte Ka’rak entweder Hilfe holen oder er würde ihn wecken müssen und den Fremden zu Fuß nach Anwardat zurück begleiten.
Mit einem Seufzen entschloss er sich, den Fremden zu wecken und dann mit ihm zu gehen.
Versuchsweise rüttelte er an dessen Schulter, worauf der Ro’od mit einem Stöhnen seine Augen aufschlug und unvermittelt in Ka’raks Gesicht starrte. Ka’rak wäre beinahe zurückgeschreckt, als er die Augen des Ankömmlings sah. In diesem Blick war nichts, keine Angst, kein Schmerz, keine Panik, noch nicht einmal Neugierde. Der Blick war völlig leer, die blauen, fast grauen Augen des Fremden fixierten Ka’rak, während er sich behutsam aufsetzte.
„Was starrst du mich so an, Junge?“ fragte der Mann in strengem Ton.
Ka’rak musste schlucken. So hatte er sich das ganz und gar nicht vorgestellt. Dennoch antwortete er: „Mein Name ist Ka’rak Altor. Ich bin Sagenkundiger von Anwardat und kam hierher, um euch in die Stadt zu begleiten“
Noch während er sprach, bemerkte Ka’rak wie verrückt sich das anhörte. Deshalb korrigierte er sich: „Ich meine natürlich, jeden Tag kommt jemand an den Platz der Ankunft und überprüft, ob jemand angekommen ist und aus dem Netz befreit werden muss.“
Der Fremde schüttelte seinen Kopf. „Wenn ich hier erwartet wurde, dann weißt du sicherlich, wie ich heiße. Ich kann mich nämlich an nichts erinnern. Sogar die Worte, die ich sage, hören sich ungewohnt und falsch an. Also, wie ist mein Name, Ka’rak Altor?“
„Das weiß ich auch nicht. Meister Gart könnte euch wahrscheinlich helfen. Dazu müssen wir aber in die Stadt gehen.“
Das Gesicht des Fremden verzog sich zu etwas, was ein Lächeln hätte sein können, wenn die Augen nicht weiterhin kalt abschätzend zu Ka’rak hochgeblickt hätten.
„Dann sollten wir uns besser beeilen. Wo ist diese Stadt, von der du gesprochen hast? Ist sie weit weg?“
„Die Stadt ist etwas im Süden. Wenn wir uns beeilen, können wir schnell dort sein“
Vielleicht war der Fremde unsicher und verschanzte sich hinter seinem stechenden Blick, überlegte Ka’rak. Schließlich kam er aus einer fremden Welt und musste sich verloren vorkommen.
Der Ro’od nickte, stand auf und deutete mit fragendem Blick auf dem Pfad. Als Ka’rak nichts sagte, setzte er sich wortlos in Bewegung und verschwand schnell im Dunkel unter den Bäumen. Ka’rak beeilte sich, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Verjak brütete vor seinen Notizen. Meister Gart ließ ihn seit Stunden unverständliche Dinge aus verschiedenen Büchern zusammentragen, die sich allesamt mit dem Ro’od befassten, die sich aber häufig genug in wichtigen Punkten widersprachen. Gart stellte, darauf angesprochen, nur fest, dass sei ganz natürlich, da all diese Bücher aus alten, längst vergessenen Sprachen übersetzt worden seien und die Worte oft die verschiedensten Bedeutungen haben konnten. Er hatte sich danach mit einigen Bedeutungen des Wortes Ro’od aufgehalten. Ro’od hieß manchmal einfach Schlüssel oder Öffner, wurde jedoch auch mit Diener der Götter und ähnlichem übersetzt. Langsam glaubte Verjak, dass der Ro’od nichts als eine alte Legende war, die Gart und seine Lehrlinge mit endloser Langeweile strafen sollte.
Wenigstens gab es immer etwas Neues in der Bibliothek zu sehen.
Vor kurzem hatte der Hohe Rat Seditus haut Anward die Bibliothek betreten. Seit Menschengedenken war ein haut Anward Mitglied des Ältestenrates. Jeder kannte die Geschichte der edelsten Familie von Anwardat. Die reichen Ländereien der Familie erstreckten sich am Westufer des Anward entlang bis zu dessen Quelle. Haut Anwards hatten den Bau des Tempelbezirks finanziert und das Land Morwindel gegen Eindringlinge verteidigt. Seditus führte den Rat an und folgte den Traditionen seiner Ahnen, sich mit seiner ganzen Kraft für das Wohlergehen der Menschen von Morwindel einzusetzen.
Verjak hatte Seditus immer verehrt, doch zur Zeit achtete er nicht auf Seditus. Zusammen mit Seditus hatte Errin haut Anward, seine jüngste Tochter, die Bibliothek betreten. Sobald Errin einen Raum betrat, verstummten in der Regel alle Anwesenden, die Männer aus Bewunderung und die Frauen aus Neid. Errin, gerade achtzehn, und, jedenfalls nach Meinung aller Lehrlinge im Tempelbezirk, die schönste Frau ganz Anwardats, wenn nicht sogar ganz Morwindels. Selbst kampferprobte Feldmagier verfielen ins Stammeln, ließ Errin sich dazu herab, ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Verjak hatte noch nie ein Wort mit ihr gesprochen, wusste aber im Voraus, dass er ohnehin kein Wort herausbringen würde. Von seinem Platz aus sah Verjak ihre taillenlangen goldenen Haare. Sie kam mit ihrem Vater genau in Richtung des Tisches, an dem er zusammen mit Gart arbeitete. Als die beiden schließlich stehen blieben, traute Verjak sich kaum, zu atmen. Er hatte einige der älteren Lehrlinge sagen hören, ihre Haare hätten die Farbe reifen Weizens, aus der Nähe betrachtet war er überzeugt, neben ihr würde sogar die Sonne verblassen. Ihre Haare schienen die düsteren Ecken der Bibliothek zu beleuchten. Wegen der Helligkeit ihrer Haut wirkte Errins Gesicht, als wäre es aus feinstem Marmor gemeißelt. Sie war von strahlender Schönheit und als sie ihn ansah, hätte er sich um ein Haar in ihren großen Augen verloren. Auch wenn er für immer leben würde, war er sicher, Augen wie Errins nie wieder bei einer anderen Person zu sehen. Im Licht, das die Nische beschien, waren ihre Augen, mit denen sie aufmerksam Gart betrachtete, von blaugrüner Farbe. Er sah für einen Moment, der sich ewig hinzuziehen schien, nichts als diese Augen, in denen eine wache Intelligenz ebenso wie eine Menge Humor zu erkennen waren. Bestürzt erkannte Verjak, dass er seit einer Minute Errin angestarrt und darüber vergessen hatte, Gart auf die Ankömmlinge aufmerksam zu machen. Schnell zupfte er also Gart am Ärmel seiner Robe und nickte in Richtung der Anwards.
Gart bedachte Verjak zunächst mit einem zornigen Blick, bevor er Seditus und Errin mit einer leichten Verbeugung begrüßte.
„Hoher Rat haut Anward, Errin. Was verschafft mir die Ehre eures Besuches?“
Seditus bedachte Gart mit einem leichten Kopfnicken und erwiderte: „Ich wollte euch persönlich davon unterrichten, dass sich nach Meinung der Wachen am Zeremonientor zwei Personen der Stadt nähern“
„Zwei Personen? Ist die Wache sich ganz sicher?“, fragte Gart aufgeregt.
Seditus starrte Gart ungeduldig an. „Würden irgendwelche Zweifel bestehen, wäre ich wohl kaum hier. Die übrigen Ratsmitglieder versammeln sich bereits am Tor. Ihr solltet mich dorthin begleiten. Als Ratszauberer ist es schließlich eure Aufgabe, den Reisenden begrüßen.“
Verjak war fassungslos. Bei diesen Worten vergaß er sogar, die Gelegenheit zu nutzen und Errin weiterhin aus der Nähe zu mustern. Er hatte gerade festgestellt, wie vorteilhaft ihr schlichtes blaues Kleid ihre aufregende Figur unterstrich und sich in Träumereien verloren. Würden die Götter heute von ihm verlangen, eine Frau zu erschaffen, dann sähe sein Werk genau wie Errin aus. An Errin gab es nichts, was er hätte verändern wollen, sie war einfach perfekt. Seditus haut Anward behandelte Gart wie einen einfachen Diener. Er erteilte einem der mächtigsten Männer des Landes mit einer Selbstverständlichkeit Befehle, die zeigten, wie bewusst er sich seiner hohen Stellung war. Wenn nur Ka’rak hier wäre, dachte Verjak. Ka’rak hatte eine Begabung darin, aus dem Verhalten zwischen anderen Menschen auf ihre Gedanken zu schließen. Leider beherrschte er diesen Trick nur bei Gesprächen zwischen anderen Leuten, was ihn immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Dach konnte selbst Verjak erkennen, dass Seditus Gart keinerlei Respekt entgegenbrachte. Er schien ihn beinahe zu hassen, während Gart sich krampfhaft bemühte, höflich zu bleiben. Nur konnte Verjak sich keinen Grund für die gegenseitige Abneigung vorstellen.
Gart willigte ein, Seditus zu begleiten und bedeutete Verjak, er solle erst die Bücher zurückstellen und anschließend nachkommen.
Seditus verließ die Bibliothek zusammen mit Gart, während die Anwesenden ehrfürchtig aus dem Weg gingen. Verjak blickte ihnen nach, bis sie die Bibliothek durch einen Seiteneingang verlassen hatten und betrachtete gerade die verschiedenen Bücher auf dem Tisch, als ihm ein Kribbeln im Nacken verriet, dass er beobachtet wurde. Sofort drehte er sich um und sah sich unvermittelt Errin gegenüber, die von ihm unbemerkt zurückgeblieben war und ihn mit einem abschätzenden Blick studierte.
Vor wenigen Augenblicken dachte Verjak noch, er wäre der glücklichste Mensch der Welt, würde sie ihn so ansehen. Jetzt fühlte er sich stattdessen unwohl und nervös.
„Du bist einer der neuen Sagenkundigen?“
Das war eigentlich keine Frage, eher eine Feststellung. Trotzdem bejahte Verjak zögernd.
„Und wie heißt du?“
„Aehm, Ver-Verjak Galador.“ Im selben Moment wäre er am liebsten im Erdboden versunken. Warum stotterte er bei seinem eigenen Namen. Errin war schließlich nicht die erste Frau, mit der er sich unterhielt, wenn auch mit Sicherheit die Aufregendste. Normalerweise reagierten Frauen und Mädchen schüchtern und aufgeregt, wenn er sie ansprach. Bei Errin war das offenkundig nicht so, sondern eher umgekehrt.
„Also, Em Ververjak“, meinte Errin mit einem Lächeln, „Warum bringst du die Bücher nicht zurück und begleitest mich zum Tor.“
Schmollend fügte sie hinzu: „Oder soll ich ohne Begleitung durch das Marktviertel gehen?“
Verjak errötete. „Ich meinte natürlich Verjak, Herrin haut Anward. Ich fühle mich geehrt, euch zu begleiten. Wenn es euch nichts ausmacht, eine Weile zu warten, bis ich meine Aufgaben erledigt habe.“
„Nennt mich Errin. Herrin haut Anward ist meine Mutter. Oder sehe ich so alt aus?“, fragte sie mit einem spitzbübischen Seitenblick..
Verjak merkte, dass jede Antwort ihn noch lächerlicher gemacht hätte. Deshalb nickte er nur knapp zum Zeichen, dass er verstanden hatte und trug einen Stapel Bücher zu einem der Regale mit den Übersetzungen aus altertümlichen Sprachen.
Er würde Errin durch die halbe Stadt begleiten. Als sein Blick auf sein Spiegelbild in einer Glasscheibe fiel, sah er, dass er ein unsinniges Grinsen aufgesetzt hatte. Heute wäre Ka’rak nicht der einzige, über den gesprochen werden würde. Beim Gedanken an Ka’rak wurde Verjak bewusst, dass jetzt wohl Ka’rak Gart im Amt des Zauberkundigen nachfolgen würde. Irgendwie fühlte er sich dadurch erleichtert. Nach dem Tod seiner Mutter hatten seine Großeltern ihm von seinem Vater und dessen Begabung zum Heilen, aber auch Zerstören, erzählt und seitdem hatte er immer den Traum, ins Heer einzutreten und dort als Heiler oder Feldmagier zu dienen. Als Sagenkundiger wäre er hingegen dazu verdammt, auf Garts Rücktritt oder Tod zu warten und in Anwardat eingeklemmt zwischen Büchern und Schriftrollen zu leben, ohne sich auszeichnen oder Abenteuer erleben zu können. Gleich Morgen würde er Gart fragen, ob er den Dienst des Rates verlassen dürfte, um seine Pflicht im Heer zu tun.
Als er schließlich zu Errin zurückkehrte, grinste er so sehr übers ganze Gesicht, dass Errins Selbstsicherheit sichtlich einen Riss bekam. Sie runzelte die Stirn und fragte ihn, was passiert wäre.
Verjak fühlte, wie die Nervosität und seine ungewohnte Unsicherheit langsam verschwanden. Mit eine galanten Verbeugung erklärte er: „Heute ist ein wunderbarer Tag. Wie es aussieht, ist der Ro’od erschienen, die Sonne scheint und ich gehe mit der schönsten Frau der Stadt zum Tor. Was, Errin, könnte noch besser sein?“
Angesichts dieser Feststellung konnte nun Errin nur noch erröten. Ihr Versuch, Verjak missbilligend anzuschauen scheiterte kläglich, musste sie doch gleichzeitig lachen. Zufrieden mit sich, bot ihr Verjak seinen Arm an und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Zeremonientor.

Ka’rak schwitzte. Der Fremde hatte sein hohes Tempo auch in der Kristallebene mit den teilweise spitzen Kristallen beibehalten, und das, obwohl er barfuss war. Da sie bald die Stadt betreten würden, kehrte ein Teil seiner Sorgen und Ängste zurück, aber bei weitem nicht so stark wie noch am Morgen. Unwillkürlich lächelte Ka’rak. Es stimmte wirklich, man fürchtete unbekannte Dinge viel stärker als bekannte, auch wenn die Furcht gänzlich unbegründet war.
Seit dem kurzen Gespräch auf der Hügelkuppe hatte der Ankömmling kein Wort mehr gesagt. Der Anblick der weiten Kristallebene schien ihn nicht im Geringsten zu erstaunen. Selbst das Auftauchen Anwardats im Süden mit dem glitzernden Zeremonientor nahm er wortlos hin ohne auch nur einen Schritt zu zögern.
Am Tor und im dahinter liegenden Marktviertel wäre jetzt wahrscheinlich schon die ganze Stadt bis zum letzten Einwohner versammelt. Zum Glück wäre Gart auch am Tor und würde den Fremden übernehmen und sich weiter um ihn kümmern. Dieser Mann hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Vorstellung des Ro’od, abgesehen davon, dass er offensichtlich durch das Portal gekommen war. Ka’rak freute sich am meisten darauf, Verjaks erstauntes Gesicht zu sehen, wenn er die Stadt gemeinsam mit dem Ro’od betreten würde. Sie hatten sich in ihrer Lehrzeit häufig genug darüber unterhalten, wie es wohl wäre, berühmt zu sein. Bei diesen Gesprächen hatten sie sich ausgemalt, was sie dann alles tun könnten. Ka’rak hatte die Träumereien jedes Mal genossen, aber es war ihm eigentlich immer klar, dass Verjak derjenige sein würde, der den Ro’od am Platz der Ankunft finden und den Ruhm ernten würde. Offenbar stimmte auch eine weitere von Garts Weisheiten. Wenn ihm etwas fürchterlich misslang, sagte er stets: „Erwarte niemals, dass alles so verläuft, wie du es dir vorgestellt hast.“
Jetzt erkannte er, dass die Tore weit geöffnet waren und eine kleine Gruppe direkt vor dem Tor stand. Scheinbar sah der Fremde auch die kleine Abordnung und beschleunigte seine Schritte wieder. Um ihm folgen zu können, musste Ka’rak beinahe laufen. Das er rennend hinter dem Ro’od die Stadt erreichen würde, hatte er sich ganz sicher nicht erträumt. Er zuckte nur die Schultern und bemühte sich, würdevoll durch die Kristallebene zu hasten.

Verjak stand neben Gart am Tor, zusammen mit dem Rat von Morwindel und einigen anderen Würdenträgern, die sich gerade in Anwardat aufhielten. Er war immer noch wie berauscht vom Eindruck seines Gangs zum Tor zusammen mit Errin. Am Vortag hatten alle Menschen im Marktviertel ihn ehrfürchtig angestarrt, heute wurde er abermals angestarrt, doch aus einem völlig anderen Grund. Errin stand nur ein Stück weit hinter dem Tor, direkt vor der Kette aus Wachen, die eine breite Gasse zum Tempelbezirk von den Bürgern freihielt. Schon innerhalb des Tempelbezirks hatte die Tatsache, dass er Errin an seinem Arm zum Nordtor führte, für großes Aufsehen gesorgt. Nachdem er in der Bibliothek endlich wieder zu sich selbst gefunden hatte, genoss er jeden Augenblick des Zusammenseins mit Errin. Mit ihr konnte er scherzen, sich über die erstaunten Gesichter der im Tempelbezirk lebenden Magier amüsieren und einfach Spaß haben. Nach dem Verlassen des Tempelbezirks zog Errin ihn auf die freie Gasse und nahm damit den direkten Weg zum Tor. Eigentlich wollte er um die Menge herumgehen und so das Zeremonientor erreichen. Nach einiger Zeit erkannte er, dass sie die Gasse vor allem deshalb benutzte, weil sie die Blicke der wartenden Menschenmenge sichtlich genoss. Immer, wenn sie sich umsah und er ihre Augen sehen konnte, sah er ihre Augen regelrecht vor Freude strahlen. Er kannte das Gefühl ja schon vom Vortag. Aber für Errin schien es etwas völlig Neues zu sein. Deshalb ließ er sie in Ruhe ihren Gang durch das Marktviertel genießen. Am Tor hatte sie ihm dann schließlich ergriffen zugeflüstert: „Danke für Alles, Verjak. Du hast gesagt, heute wäre ein wunderbarer Tag. Ich glaube, damit hattest du in vielerlei Hinsicht Recht. Jetzt weiß ich endlich, wie sich der Ratszauberer oder ein Sagenkundiger fühlt, wenn er zum Platz der Ahnen geht. Davon habe ich geträumt, seit ich zum ersten Mal Gart sah, als er morgens den Markt überquert hat.“
Wie Verjak erstaunt feststellte, standen Tränen in ihren Augen. Sie hatte auf dem kurzen Weg hierher irgendwo ihre ganze Selbstsicherheit verloren und wirkte dadurch attraktiver denn je. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen. Der Gedanke daran, wie er Errin vor den Augen der gesamten Stadt, des Rates, ihrem Vater und Gart in die Arme nehmen würde, brachte ihn wieder in die Realität zurück. Da es auch sehr unangenehm werden würde, bräche sie hier in Tränen aus, flüsterte er ihr mit einem Grinsen zu: „Du hast dich gut gehalten. Gestern habe ich mich übergeben, nachdem mich niemand mehr von der Stadt aus sehen konnte. Ich könnte dir sogar erzählen, wie Gart sich bei seinem ersten Auftritt gefühlt hat.“
Nach einer kurzen Pause verschwanden ihre Tränen und in ihrem Gesicht erschien ein zaghaftes Lächeln.
„Natürlich müsste ich dich danach zum Schweigen bringen, da Gart mich sonst vom Hauptturm der Zitadelle werfen würde.“, fügte er ernst hinzu.
Endlich lachend drückte Errin ihm den Arm und ging zu den übrigen wartenden Familienangehörigen der Räte, während er wortlos seine Position neben Gart einnahm. Gart meinte düster: „Wenn du nicht bald das Grinsen gegen einen Gesichtsausdruck austauschst, der diesem wichtigen Ereignis angemessen ist, werde ich dem Hohen Rat Seditus haut Anward erzählen, dass du seine geliebte Tochter fast zum Weinen gebracht hast.“
Verjak wollte Gart gerade verwünschen, als er ihn mit einem Auge zwinkern sah. Also bemühte er sich um eine feierliche Miene und freute sich in seinem Innern.
Während er in Gedanken bei Errin verweilt hatte, waren Ka’rak und der Fremde schon fast beim Tor angekommen. Beinahe hätte Verjak nun lauthals losgelacht. Hatte Gart gemeint, sein Grinsen wäre dem feierlichen Anlass nicht angemessen, so wirkte Ka’rak völlig deplaziert. Er lief beinahe und sah so erschöpft aus, als ob er den ganzen Weg zurück zur Stadt gerannt wäre. Der Fremde, der ungefähr fünfzig Schritt vor Ka’rak ging, sah dagegen so frisch aus, als ob er gerade erst aufgestanden wäre. Trotz der schwarzen Kleidung schwitzte er nicht. Ein Blick auf Gart genügte, um zu erkennen, dass er von Ka’raks Auftritt nicht begeistert war.
Am Tor angekommen, blieb der Fremde stehen und betrachtete die Gesichter der Wartenden. Sein Blick verweilte eine Sekunde auf Gart, der immer noch missbilligend Ka’rak anstarrte. Nachdem Ka’rak schließlich bei Gart angelangt war, verbeugte er sich tief vor den anwesenden Räten und sagte außer Atem: „Ehre und Weisheit dem Rat.“
Nachdem er seine Verbeugung beendet hatte, zeigte er auf den schwarzen Fremden und erklärte laut: „Diesen Reisenden fand ich am heiligen Platz der Ankunft. Die Säulen haben in den unterschiedlichsten Farben pulsiert.“
Diese Worte reichten aus, den Versammelten mitzuteilen, dass keinerlei Zweifel darüber bestand, dass der Fremde durch das Portal gekommen war. Verjak musterte den Ankömmling genauer. Abgesehen von der seltsamen Kleidung und der Tatsache, dass er einen kahlen Schädel hatte, wirkte er erstaunlich gefasst. Entweder hatte er eine nahezu unmenschliche Selbstbeherrschung oder er war Versammlungen dieser Art gewohnt. Verjak konnte nicht anders, er bewunderte den Fremden für seine Gelassenheit.
Nachdem Gart dem Hohen Rat zugenickt hatte, wandte Seditus sich der Menge zu und verkündete: „Volk von Anwardat. Heute ist ein Tag, an den ihr den Rest eures Lebens mit Freude zurückdenken könnt. Der Sagenkundige Ka’rak Altor hat heute den Ro’od vom Platz der Ankunft zu uns gebracht.“ Bei diesen Worten deutete er auf Ka’rak und den Fremden, trat ein Stück zur Seite und bedeutete den beiden, sie sollten ein Stück vortreten. Ka’raks Gesicht wurde so rot, wie Verjak es bei ihm noch nie gesehen hatte, doch er trat tapfer zusammen mit dem Ro’od vor und verbeugte sich leicht. Nachdem Seditus sich wieder vor die Menge gestellt hatte, erklärte er den heutigen Tag zum Feiertag und verkündete, an diesem und am nächsten Tag solle die Arbeit ruhen und ein Freudenfest gefeiert werden. Als darauf die Menge in Jubel ausbrach, gingen die Versammelten gemeinsam durch die Gasse in den Tempelbezirk. Verjak fand es nur seltsam, dass der Fremde bis jetzt noch kein Wort gesprochen hatte.
Nach dem feierlichen Empfang am Tor war der Ro’od vom Rat der Ältesten, Gart, Verjak und ihm selbst zunächst in den Tempelbezirk begleitet worden, wo ihm eine Kammer zur Verfügung gestellt wurde. Erst im Tempelbezirk hatte der Fremde mit den Räten gesprochen und sich für ihre Freundlichkeit bedankt. Er entschuldigte sich für sein Schweigen, er wäre einfach zu überwältigt gewesen, um ein Wort herauszubringen. Dann bat er um etwas Zeit für sich allein, da er sich von den gerade erst überstandenen Strapazen erholen wolle und dem Rat später zur vollen Verfügung stehen würde. Nach seiner Erklärung verbeugte er sich knapp und schloss die Tür. Verjak konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und erntete dafür einen strafenden Blick von Gart, aber die verdutzten Gesichter der Mächtigen von Morwindel zu sehen, wie sie betreten vor der verschlossenen Tür standen, war wirklich sehenswert. Gart bat die Räte, ihn auch zu entschuldigen, da er sich mit seinen Lehrlingen unterhalten wolle und für später einiges vorbereiten müsse.

Nun saßen Ka’rak und Verjak im Arbeitszimmer Garts und warteten auf Gart, der eine alte Schriftrolle aus der Bibliothek benötigte, die er niemand anderem anvertrauen wollte.
Immer noch feixend, meinte Verjak: „Du sahst eindrucksvoll aus, wie du über die Kristallebene gerannt bist.“
„Ja, ich wollte mich schon immer vor der ganzen Stadt und dem versammelten Rat bis auf die Knochen blamieren.“
Resigniert sank Ka’rak tiefer in seinen Stuhl und machte sich innerlich auf weiteren Spott gefasst, doch Verjak sagte nichts und starrte schweigend aus dem Fenster.
„Was ist los, Verjak? So still bist du doch sonst nur, wenn du gerade am essen bist oder Gart dir eine Strafpredigt hält.“
Verjak drehte sich zu Ka’rak um und sah ihm ins Gesicht. Ka’rak fröstelte, als er Verjaks Gesichtsausdruck sah. Er kannte Verjak sein ganzes Leben, doch die Gelegenheiten, zu denen Verjak ernst aussah, konnte er an den Fingern einer Hand abzählen. Im Augenblick sah Verjak todernst aus.
„Ich möchte Gart fragen, ob ich den Dienst verlassen und zur Armee gehen kann.“
Ka’rak wollte gerade nach dem Grund fragen, als Verjak hinzufügte: „Ich habe mir immer schon gewünscht, etwas von der Welt zu sehen. Das weißt du doch. Und da der Ro’od zu uns gekommen ist, wird der Kampf gegen die Horde wohl bald ernst werden. Außerdem ist dir ja wohl klar, dass du der nächste Ratszauberer sein wirst.“
Daran hatte Ka’rak noch gar nicht gedacht. In der ganzen Aufregung über die Ankunft des Fremden hatte er nur an seinen Ruhm gedacht, nicht aber dass damit auch seine Beziehung zu Verjak verändert werden würde.
„Gart wird seinen Nachfolger auswählen. Nicht der Fremde. Es war Zufall, dass ich heute zum Platz der Ankunft gegangen bin. Du hast ja selbst gesagt, wie eindrucksvoll ich mich vor aller Welt zum Narren gemacht habe. Ich glaube, der Rat wird mich eher zum Ratsnarren als zum Ratszauberer ernennen.“
Verjak schüttelte den Kopf.
„Du verstehst es nicht. Der Fremde hat heute jeden im Rat wie einen Narren aussehen lassen. Dein Pech war nur, dass du dem Fremden als erster begegnet bist. Außerdem bist du für die Stellung besser geeignet als ich. Mir fehlt die nötige Geduld und ich hasse es, zwischen alten, stinkenden Büchern begraben zu sein. Ich beherrsche die zerstörerische Seite der Magie viel besser als die übrigen Seiten.“
Ka’rak konnte nicht anders. Unwillkürlich begann er zu schmunzeln, als er an den Tag zurückdachte, als Gart ihnen beibringen wollte, wie man mit Hilfe von einfachen Zaubern seine Konzentration verbessern konnte. Verjak war der Spruch so gründlich misslungen, dass er den Übungsraum schließlich mit Blitzen verwüstet und sogar ein neues Fenster aus der Wand gebrannt hatte – nur zeigte das Fenster leider die schreckensbleichen Gesichter eines Lehrers und einiger Schüler im Nebenraum. Seitdem hatte Gart seine Lektionen nur noch in Räumen erteilt, die er vorher mit schützenden Bannen gegen die gebräuchlichsten Formen zerstörerischer Magie belegt hatte.
„Siehst du. Ich glaube, jeder hat Angst, ich könnte den gesamten Tempelbezirk in Schutt und Asche legen.“
Ka’rak erkannte, dass Verjak damit zum Teil recht hatte, wollte sich aber nicht so leicht geschlagen geben. Er erinnerte sich an Garts Ausbruch am Morgen und sagte deshalb:
„Als Ratszauberer gehört die Ausbildung von Feldmagiern mit zu den anstehenden Aufgaben. Heute hat Gart eine der Marmorbänke im Innenhof zerstört, als er die Beherrschung verloren hat.“
„Bei Gart ist so was die Ausnahme, bei mir eher die Regel. Nein, ich freue mich wirklich für dich. Und ich hoffe, das tun zu können, was ich immer schon wollte. Darum frage ich Morgen Gart.“
Ka’rak erkannte, dass Verjak es ernst meinte und nicht von seinem Entschluss abzubringen war, jedenfalls nicht im Moment. Vielleicht schlug Gart Verjak seinen Wunsch auch ab. Fast wünschte er sich das, konnte seinen Freund aber auch verstehen. Verjak hatte sich immer schon nach Abenteuern gesehnt.
In diesem Augenblick stürmte Gart zur Tür herein und warf eine Schriftrolle so heftig auf den Tisch, dass sie auseinanderbrach. Ka’rak und Verjak sahen sich erschrocken gegenseitig an und machten sich so klein wie möglich auf ihren Stühlen. Wäre die Situation nicht so verwirrend gewesen, hätte Ka’rak über Verjaks Versuch, sich mit seiner Größe von beinahe vier Schritt auf einem Stuhl zu verkriechen, lauthals gelacht, nun aber starrte er mit offenen Mund seinen alten Lehrer an, der unruhig vor dem Fenster auf und ab ging. Weder er noch Verjak trauten sich, Gart anzusprechen, so lange er so aufgebracht war.
Als Gart schließlich die Anwesenheit seiner Schüler nach einigen Minuten bemerkte, funkelte er sie zornig an und donnerte: „Auf dem Rückweg von der Bibliothek habe ich den Rat Seditus haut Anward getroffen. Er teilte mir mit, der Ältestenrat habe beschlossen, das Amt des Ratszauberers abzuschaffen. Ich soll meine Angelegenheiten ordnen und meinen wohlverdienten Ruhestand genießen.“
Sein Blick schweifte von Verjak zu Ka’rak, dann begann er wieder, durch den Raum zu laufen, als er sich wieder etwas beruhigte und in ruhigerem Ton sagte: „Mit meinen Angelegenheiten hat er natürlich euch beide gemeint.“
Dabei sah er wieder von Ka’rak zu Verjak. Er schüttelte den Kopf und ließ sich resigniert in einen Stuhl fallen.
„Eigentlich solltet ihr meine Nachfolger werden, aber das ist jetzt ja unmöglich. Was soll nun aus euch werden? Wenn ihr irgendwelche Wünsche habt, solltet ihr es jetzt sagen. Also Verjak, was können wir mit dir nur anfangen? Deine gute Laune am Tor hatte wohl nicht nur mit Errin haut Anward zu tun. Was hast du auf dem Herzen?“
Verjak errötete und schaute schuldbewusst zu Boden, sammelte sich dann aber und sagte: „Ich wollte euch darum bitten, mich von meinen Pflichten zu entbinden und mir zu erlauben, mich bei der Armee zu melden.“
„Ich denke, meine speziellen Fähigkeiten werden dort eher geschätzt.“, fügte er mit einem wissenden Lächeln hinzu.
Verjaks Scherz erheiterte Gart. Er wirkte nicht mehr so aufgebracht, war auf andere Gedanken gebracht worden. Im Stillen dankte Ka’rak seinen Ahnen – und Verjak. Zufrieden mit Verjaks Antwort sagte Gart endlich: „So soll es sein. Du wirst dich dort wohl fühlen. Aber vergiss niemals, was ich dir beizubringen versucht habe. Bedenke immer, dass auf der anderen Seite meistens Menschen stehen, die dir gar nicht unähnlich sind. Ich werde gleich Morgen Marschall Ar’shok die Empfehlung geben, dich in seinen Stab aufzunehmen.“
Ka’rak wusste, wie glücklich Gart Verjak gerade gemacht hatte. Mit einer Empfehlung von Gart konnte er sich aussuchen, welche Ausgaben er im Heer übernahm und wohin im Bund ihn diese Aufgaben führten. Verjaks größter Traum hatte sich erfüllt. Doch nun sah Gart ihn selbst an. Ihm wurde bewusst, wie sehr er sich von Verjak unterschied. Im Gegensatz zu Verjak hatte er sich im Tempelbezirk und als Garts Schüler immer wohl gefühlt. Er hatte im Laufe dieses Tages seine Pflichten und die neuen Verantwortungen zwar ungezählte Male verflucht, hatte aber gedacht noch einige Jahre vor sich zu haben, bis Gart eine Entscheidung über seinen Nachfolger treffen würde. Bis dahin hätte er bestimmt gewusst, was er gerne aus seinem Leben machen würde. Deshalb entschloss er sich, wahrheitsgemäß zu antworten: „Meister Gart, im Gegensatz zu Verjak habe ich keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Ich fand die Arbeit mit euch bis jetzt eigentlich immer sehr interessant.“
Gart wurde wieder sehr ernst, als er Ka’rak betrachtete.
„Es freut mich zu hören, dass wenigstens einer von euch etwas gelernt hat. Wie es aussieht, trifft Seditus mit seiner kleinlichen Rache dich viel härter ….“
„Dann habe ich mich in der Bibliothek doch nicht geirrt. Ich verstand nicht, wie Seditus mit euch wie mit einem einfachen Diener sprechen konnte.“, unterbrach Verjak Gart aufgeregt.
Ka’rak runzelte die Stirn und fragte sich, was in der Bibliothek vorgefallen war und warum sich Seditus an Gart rächte.
Verjak wurde wieder ruhig, als er einen strengen Blick von Gart erntete.
„Wenn unser angehender General die Freundlichkeit hätte, seinen alten Lehrer noch ausreden zu lassen, wäre dieser ihm sehr dankbar. Ich wollte euch die Geschichte gerade erzählen. Seditus haut Anward ist ungefähr im selben Alter, in dem eure Väter – und mein Sohn – jetzt wären. Wie ihr ja inzwischen wisst, waren die drei unzertrennlich. Mit Seditus und einigen seiner adligen Freunde hingegen kamen sie überhaupt nicht aus. Vor ungefähr dreißig Jahren ergab es sich, dass sich sowohl Branis als auch Seditus in dieselbe Frau verliebten, Tangra. Um es kurz zu machen, gewann Branis am Ende ihre Gunst und sie wurden vermählt. Seit damals verfolgt Seditus meine Familie mit seinem glühenden Hass. Er war es, der mich mit Hilfe des Rates dazu zwang, meinen einzigen Enkel zu töten. Dass er damit seine geliebte Tangra in den Selbstmord trieb, machte ihn nur noch entschlossener, nicht eher zu ruhen, bis der Name Verinas nur noch in Geschichtsbüchern existiert. Es sieht fast so aus, als hätte er sein Ziel jetzt erreicht. Jedenfalls ist das der Grund für seinen Hass auf mich. Er glaubt, euch niemals vertrauen zu können, weil er in euch eure Väter wieder erkennt. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob ihr jemals mit ihnen gesprochen habt oder – wie es wirklich ist – sie nur aus den Erzählungen Anderer kennt.“
Ka’rak spürte Zorn und Wut aufsteigen. Er hatte gerade sechs Jahre verschwendet. Sein Leben wurde zufällig zerstört, nur weil ein mächtiger Mann seine Rache genießen wollte. Er verstand es nicht. Er war völlig machtlos. Sogar Gart war überrascht worden, wie es aussah. Eines war sicher: den heutigen Tag würde er niemals vergessen. Immer wenn er dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen oder es würde sogar besser, hatte sich seine Situation zum Schlechteren gewandelt. Und am meisten erschreckte ihn die Tatsache, dass der Tag noch lange nicht vorüber war. Wütend funkelte er Gart an.
„Aber er ist nur einer im Rat der Ältesten. Wie konnte er die Übrigen überzeugen?“
Bei dieser Frage zuckte Gart zusammen und deutete auf die Schriftrolle, die auf dem Tisch zwischen ihnen lag.
„Es steht alles in der Schriftrolle. Das Amt des Ratszauberers wurde ursprünglich geschaffen, um den Platz der Ankunft zu überwachen. Mit den Jahrhunderten wurden die Ratszauberer immer mächtiger. Heute gehört es zu meinen Aufgaben, den Rat zu beraten, ihn aber auch zu überwachen und die Ausbildung der Magier hier im Tempelbezirk zu leiten. Außerdem darf ich meinen Nachfolger selbst bestimmen, womit Ratszauberer vollkommen der Kontrolle durch den Rat entzogen sind. Ihr könnt euch wahrscheinlich vorstellen, was die Räte davon halten. Die Schriftrolle enthält die überlieferten Teile der Prophezeiung und darin heißt es, nach der Ankunft des Ro’od solle das Portal versiegelt werden, da es sowohl Segen als auch Bedrohung sei. Meine letzte Aufgabe wird es sein, mit der Rolle Morgen zum Portal zu gehen und die Beschwörung durchzuführen. Das könnte ebenso gut jeder andere machen. Ich kann den Räten keinen Vorwurf machen. Sie haben nur die Gunst der Stunde genutzt und haben sich von einem Ärgernis befreit. Das bringt mich aber wieder zu der Frage zurück, was nun aus dir werden soll. Ich bin mir sicher, du wirst weit kommen, egal welchen Weg du einschlägst. Ich habe euch nicht nur zu meinen Lehrlingen gemacht, weil ich eure Väter gut kannte, sondern weil mich einige eurer alten Lehrer auf euer Potential aufmerksam gemacht haben. Eigentlich würde ich dir raten, denselben Weg wie dein Vater einzuschlagen, aber das könnte gefährlich werden, da du ständig mit Seditus zu tun hättest und er dir sicherlich fortwährend Ärger bereiten würde. Am besten wäre es, wenn ihr so schnell nichts mehr mit Seditus zu tun hättet. Leider ist er sehr mächtig. Nur in der Armee hat er erstaunlich wenig Einfluss. Du benutzt deine zerstörerischen Kräfte zwar nicht so häufig wie Verjak, aber Marschall Ar’shok sucht schon seit längerem Offiziere, die ihren Kopf gebrauchen können. Und, um ehrlich zu sein, habe ich Angst, Verjak allein auf die Armee loszulassen. Ihr beide ergänzt euch ausgezeichnet und seit es gewohnt, zusammenzuarbeiten. Darum würde ich mich freuen, wenn auch du dich für die Armee entscheiden könntest.“
Mit einem Zwinkern fügte er hinzu: „Außerdem würdest du damit einem alten Mann ersparen, einen zweiten Brief schreiben zu müssen.“
Ka’rak konnte Gart nur mit offenem Mund anstarren. Er sollte in die Armee, fort aus Anwardat. Aber was hatte er schon zu verlieren? Gart schien recht genau zu wissen, wovon er sprach. Garts Meinung von seinen Fähigkeiten hielt er für maßlos übertrieben, aber im Heer würde er schlimmstenfalls Heiler sein, aber trotzdem viel von der Welt sehen können. Darum sagte er freudestrahlend zu.
„Dann kann ich ja beruhigt sein. Mir wäre es zwar lieber gewesen, Männer wie euch eines Tages im Rat zu sehen, aber wer weiß schon, was der kommende Krieg uns bringen wird. Da ich jetzt meine Angelegenheiten geregelt habe, können wir uns auf die große Feier heute Abend vorbereiten, bei der unser lange erwarteter Ro’od endlich sprechen wird.“
Er sah Ka’rak an.
„Aber du hast ja bereits mit ihm gesprochen. Berichte uns, wie du ihn entdeckt hast. Was hat er dir erzählt?“
„Ich kam zum Platz der Ankunft und sah die Säulen in unterschiedlichen Farben pulsieren, genau wie ihr es uns immer beschrieben habt. Als ich ihn von dem Bann befreien wollte, bemerkte ich, dass der Bann schon gebrochen war und….“
„Was?“, fragte Gart aufgeregt, „Wie war das möglich?“
„Ich weiß es doch auch nicht. Ich hatte eigentlich gehofft, ihr könntet mir das alles erklären. Vor Schreck dachte ich, er wäre gestorben, aber nachdem ich zu ihm gegangen war, bemerkte ich, dass er nur schlief. Als ich ihn dann später geweckt hatte, haben wir nur ein paar Worte gewechselt. Er hat mich gefragt, wie er heißen würde und wo die Stadt wäre, von der ich gesprochen hatte. Dann ist er losgeeilt und hat bis vor seiner Kammer kein Wort mehr gesprochen. Das war schon alles, Meister. Aber ich habe mir den Ro’od immer anders vorgestellt, nicht so verwirrend. Sollte ein Reisender nicht unsicherer sein, wenn er eine fremde Welt betritt und noch nicht einmal seinen Namen kennt?“
Gart griff abwesend nach der Schriftrolle und vertiefte sich einige Zeit in beide Hälften, bis er schließlich bemerkte: „Ka’rak, du hast dich genau richtig verhalten. Ich glaube auch, dass sich der echte Ro’od anders verhalten hätte. Der Fremde ist nach meiner Meinung nicht der wahre Ro’od.“
Verjak und Ka’rak sprangen gemeinsam von ihren Stühlen und konnten vor Verblüffung kein Wort sagen. Deshalb erklärte Gart weiter: „Ich muss sofort den Rat informieren. In unseren ältesten Büchern steht, wie das Portal funktioniert. Die Säulen pulsieren, wenn aus einer anderen Welt jemand durch das Portal kommt. Ist das aber der Fall, wird er im Netz sofort eingefangen, um ihn vor einem Teil der Schmerzen zu bewahren. Kommt aber jemand durch ein anderes Portal auf unserer Welt hierher, kann er bei seiner Ankunft den Bann zerbrechen. Vielleicht ist unser Ro’od also gar kein Fremder. Wir sehen uns spätestens nachher auf dem Fest in der Zitadelle. Macht euch fertig.“ Während er aus dem Raum stürzte, fügte er grinsend hinzu: „Immerhin soll das auch unser Abschiedsfest werden, wenn es nach Seditus geht. Das dürfen wir auf keinen Fall verpassen.“ Bei diesen Worten fiel die schwere Tür ins Schloss und seine beiden verdutzten Schüler blieben ratlos zurück.

Zusammen mit Ka’rak ging Verjak vom Tempelbezirk zur Zitadelle. Der große Platz zwischen der Zitadelle und dem Tempelbezirk war ein Meer bunter Farben. Auf dem Platz schien sich die ganze Stadt und ein großer Teil der Bauern aus dem Umland versammelt zu haben, um gemeinsam die Ankunft des Ro’od zu feiern. Verjak war immer noch über Garts Verhalten vom Nachmittag verwirrt. Hätte er den Rat überzeugt, wären die Feiern sicherlich abgesagt worden, aber selbst Gart war nicht unfehlbar. Vielleicht hatte er sich einfach geirrt und der Fremde war tatsächlich der Ro’od. Gleich würden sie auf jeden Fall erfahren, was geschehen war. Im Moment war es interessanter, sich das Treiben der ausgelassenen Menschen auf dem Platz anzusehen. An einigen Ständen, die Getränke verkauften, erkannte er Trauben von Angehörigen der örtlichen Garnison, die schon den ganzen Nachmittag gefeiert hatten, wenn er sich ihren schwankenden Gang ansah. Morgen würden die Unteroffiziere viel Freude haben, die verkaterten Gestalten über die Exerzierplätze zu scheuchen.
Je näher sie der Zitadelle kamen, umso mehr Bewegungsfreiheit hatten sie. Der große Platz wurde im Osten von der weißen Granitmauer des Tempelbezirks begrenzt, im Süden durch den Morwind, im Norden lagen die Stadthäuser reicher Adliger und die Paläste der Räte und im Westen erhob sich die Zitadelle von Anwardat. Die Zitadelle lag in der Mündung des Anward in den Morwind auf einer großen Insel. Aus schwarzem Stein erbaut, zeichneten sich ihre Türme und massiven Mauern bedrohlich gegen die untergehende Sonne ab. Verjak fand es verständlich, dass sich die meisten Menschen im Ostteil des Platzes beim Tempelbezirk drängten und die Nähe der Zitadelle mieden. An der Westseite des Platzes schien die Stimmung gedämpfter, die Menschen warfen immer wieder besorgte Blicke in Richtung der Zitadelle, fast so, als befürchteten sie, Marschall Ar’shok könne seinen Bogenschützen befehlen, einen Pfeilhagel auf dem Platz niedergehen zu lassen. Dabei wäre das völlig unmöglich gewesen, denn Ar’shoks Leibregiment war unter den Feiernden genauso zahlreich vertreten wie die Stadtwache – und sie waren in noch schlimmerer Verfassung. Fast bedauerte Verjak, zu der Feier in der Zitadelle gehen zu müssen. An jedem anderen Ort in der Stadt würde die Stimmung heute ausgelassener sein als auf dem Fest mit den vielen Adligen. Eigentlich freute er sich nur darauf, Errin wieder zu sehen und einige Worte mit ihr zu wechseln. Ka’rak hatte schon seit Garts Andeutung vorsichtig Fragen gestellt, die Errin betrafen. Bis jetzt hatte er noch keines der unzähligen Gerüchte aufgeschnappt, die seit heute Mittag unter den Lehrlingen die Runde machten. Verjak freute sich auf Ka’raks Gesichtsausdruck, wenn er ihn mit Errin bekannt machen würde. Noch war Ka’rak jedenfalls damit beschäftigt, aufmerksam die fröhlichen Menschen um ihn herum zu beobachten. Es war für Verjak unverständlich, wie ein Mensch, der jede Aufgabe, die Gart ihm gestellt hatte, mit Leichtigkeit gelöst hatte, vor anderen Menschen die Fassung verlor und nur noch stammelte. Gart schien Ka’rak kaum einzuschüchtern, während sich Verjak selbst häufig befangen fühlte, wenn Gart ihn schief ansah. Er vermittelte in den Streitigkeiten, die immer wieder zwischen den Lehrlingen ausbrachen und bevorzugte niemanden. Die meisten Lehrlinge bewunderten Ka’rak deswegen. Natürlich hatte er einen Teil der Bewunderung registriert, war aber deswegen nicht stolz, sondern eher misstrauisch geworden. So konnte nur Ka’rak reagieren.
Hoffentlich hatte Gart den Rat irgendwie überzeugen können. Einen besseren Ratszauberer als Ka’rak konnte Verjak sich einfach nicht vorstellen.
Am Rand des Platzes saßen einige junge Paare auf der Mauer über dem östlichen Mündungsarm des Anward. Verjak grinste. Es gab also doch Menschen, die die Nähe der Zitadelle schätzten, sei es auch nur deswegen, weil sie in den Schatten weniger Aufmerksamkeit erregten. Er selbst hatte häufig genug dort gesessen und zu seinen Ahnen gebetet, dass Gart nicht zur Zitadelle gehen und ihn sehen würde. Er schaute sich im Gehen um und sah, dass nur wenige Schritte hinter ihnen einige junge Frauen, fast noch Mädchen gingen, ständig auf Ka’rak deuteten und dazu aufgeregt tuschelten. Es wäre wohl besser, Ka’rak zu warnen, bevor eine der Frauen ihn ansprechen würde.
„Ka’rak, ich glaube, wir haben Gesellschaft.“
Aus seinen konzentrierten Beobachtungen gerissen, wäre Ka’rak um ein Haar über seinen Stab gestolpert, der sich irgendwie zwischen seine Füße verirrt hatte. Verjak rollte mit den Augen. Ka’rak konnte manchmal eine wandelnde Katastrophe sein. Aber zum Glück wurden seine Missgeschicke mit jeder Woche seltener. Früher oder Später würde er nicht mehr über seine Füße stolpern. Verjak hoffte, dass dieser wünschenswerte Zustand früher eintreten würde.
Als sich Ka’rak wieder gefangen hatte und den Stab vorsorglich etwas weiter von seinem Körper entfernt hielt, fragte er: „Was ist los? Wer folgt uns?“
„Uns folgt niemand. Ich glaube, diese hübschen Mädchen folgen ganz allein dir.“ Er deutete kurz mit seinem Daumen nach hinten. Unwillkürlich blieb Ka’rak stehen und drehte sich um. Hoffentlich blamierte Ka’rak sich nicht wieder. Sicher würde er gleich angesprochen werden.
Als Ka’rak plötzlich auf die Frauen zuging und sie freundlich anlächelte, wusste Verjak nicht mehr, was er davon halten sollte, aber als Ka’rak sich galant verneigte, immer noch freundlich, und dabei keineswegs stammelnd, fragte, was die hübschen Damen denn so alleine vor der Zitadelle machen würden, traute Verjak seinen Sinnen nicht mehr. Das konnte unmöglich Ka’rak sein, der da so unbefangen mit den Frauen scherzte. Mit einer weiteren eleganten Verbeugung drehte sich Ka’rak schließlich um und grinste übers ganze Gesicht. „Ich wünschte, du könntest dein Gesicht sehen.“, spottete er. „Alleine dafür hat es sich gelohnt, meine Angst kurz zu überwinden. Aber wir haben jetzt etwas nach dem Festessen in der Zitadelle vor. Wir werden uns so früh wie möglich mit den Mädchen treffen und ein wenig feiern.“
„Das kann unmöglich dein Ernst sein.“ Sprachlos stand Verjak Ka’rak gegenüber. Er war Zeuge eines Wunders geworden.
„Natürlich meine ich es ernst, immerhin bin ich ab Morgen wahrscheinlich in der Armee, und da werde ich wohl etwas direkter werden müssen.“
„Abgesehen davon habe ich mich nur genau so verhalten, wie du dich wahrscheinlich verhalten hättest.“, gab er nach einer Weile zu.
Jetzt konnte Verjak nicht mehr anders. Ihm kamen fast die Freudentränen. Es war kein Wunder. Ka’rak hatte endlich verstanden, dass die meisten Leute genauso unsicher waren wie er, es aber im Gegensatz zu ihm nicht zeigten. Dafür schlug er ihm kameradschaftlich auf den Rücken und dankte den Ahnen für Ka’raks Erleuchtung.
„Ich versuche dir schon seit Jahren zu erklären, was du falsch machst. Kannst du mir jetzt bitte erklären, wie die Erkenntnis dich getroffen hat, nachdem du ihr so viele Jahre erfolgreich ausgewichen bist?“
Ka’rak wurde nachdenklich und ging zögernd einige Schritte in Richtung der Zitadelle, bis er wieder stehen blieb.
„Es war dieser ganze Tag. Ich habe mir seit ich aufgestanden bin Sorgen gemacht. Zuerst über die Menschen im Marktviertel. Dann bin ich über den Fremden gestolpert und durfte mir wieder vorstellen, wie die ganze Stadt mich beobachten würde. Zu guter Letzt hat dann Gart noch gesagt, ich würde meinen Weg im Stab von Marschall Ar’shok machen. In der Zwischenzeit hatte ich die Gelegenheit, in aller Ruhe den ganzen Ärger zu durchdenken. Dabei habe ich schließlich erkannt, dass ich mir viel zu viele Gedanken darüber mache, was ich alles falsch machen könnte, statt darüber nachzudenken, wie ich die Sache am besten anfangen sollte, um sie möglichst gut zu machen.“
„Und im Gegensatz zu anderen Sagenkundigen musste ich mich nicht vor dem Zeremonientor übergeben.“, schloss er lachend.
Verjak fiel in sein Lachen ein und freute sich ungetrübt auf das anstehende Fest. Dieser Abend würde auf jeden Fall sehr angenehm werden, selbst wenn der Fremde nur ein Betrüger sein sollte.
An der Brücke über den östlichen Mündungsarm standen ein Dutzend Wachen in voller Rüstung, die jeden Vorübergehenden kritisch beobachteten. Mit seinen beinahe vier Schritt Größe überragte Verjak die meisten anderen Personen, mit denen er normalerweise zu tun hatte, die Wachen aus Ar’shoks Leibregiment überragten ihn aber allesamt. Ar’shok nahm nur Männer in seinem Regiment auf, die alleine durch ihre Größe schon jeden Gegner einschüchterten. Auf Verjaks Frage, warum er einen solchen Aufwand betrieb, hatte er einmal streng geantwortet: „Jeder Kampf, der verhindert werden kann, ist ein großer Sieg. Und wenn mein Regiment irgendwo auftaucht, überlegt es sich jeder Gegner gleich zweimal, ob er wirklich kämpfen will.“
Wie er im Moment vor diesen muskelbepackten Riesen stand, verspürte er wirklich keine Lust, sich mit ihnen anzulegen. Nachdem die Wachen sie kurz gemustert hatten, traten sie beiseite. Auf der anderen Seite, am Ende der Zugbrücke, wartete ein weiteres Dutzend Wachen auf ihre Ankunft. So viele Wachen hatten noch nie am Eingang der Zitadelle gestanden. Marschall Ar’shok schien sich über etwas Sorgen zu machen, er hätte seine Männer niemals ohne Not vom Feiern abgehalten. Die Wachen am Torhaus wurden von einem Korporal befehligt, der nun auf Ka’rak zu ging und ihn salutierend ansprach: „Guten Abend. General Ar’shok hat mich beauftragt, euch sofort in seinen Raum zu begleiten. Er erwartet euch dort gemeinsam mit Meister Gart Verinas. Er sagte, es wäre dringend.“
Ka’rak blickte kurz zu Verjak herüber, zuckte die Schultern und bedeutete dem Korporal voranzugehen.
Der Bote führte sie durch ein Labyrinth aus Korridoren und kleinen Treppen, bis sie schließlich Marschall Ar’shoks Arbeitszimmer im Hauptturm erreichten. Dort klopfte der Korporal an die Tür und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Im Arbeitszimmer des Oberkommandierenden der Armee von Morwindel lief Gart unruhig zwischen dem Tisch und einer Ecke hin und her, während Ar’shok ohne erkennbare Anzeichen von Aufregung auf einem Stuhl saß und eine Karte studierte. Marschall Ar’shok war beinahe so groß wie Verjak. In seinem braungebrannten Gesicht waren die ersten Falten zu erkennen, doch seine Augen hatten – wie bei Gart – ihren jugendlichen Glanz über die Jahre bewahrt. Mit Mitte fünfzig begann Ar’shoks kastanienbraunes Haar an den Schläfen zu ergrauen, doch zeigte sein Körper keine Zeichen von Schwäche. Ar’shok saß mit einem bescheidenen schwarzen Hemd über einer schlichen braunen Hose auf seinem Stuhl. Einziges Zeichen seines hohen Rangs war das lange Schwert in seiner reich verzierten Scheide an seiner linken Seite. Für einen Magier war es sehr ungewöhnlich, eine Waffe zu tragen, doch Verjak hatte gehört, dass General Ar’shok sich sogar mit den besten Fechtern des Landes messen konnte. Ar’shoks Miene war ernst. Soweit sich Verjak erinnern konnte, hatte er den Marschall nur zweimal lächeln sehen, sonst hatte Ar’shok immer denselben maskenhaften Ausdruck gezeigt wie in diesem Moment.
Kaum hatte Gart seine Schüler gesehen, zeigte er auf zwei Stühle und sagte: „General, ihr kennt ja meine beiden Schüler, Verjak Galador und Ka’rak Altor.“ Der General sah von der Karte flüchtig zur Tür herüber und nickte den beiden zu, während sie sich verbeugten und auf die ihnen zugewiesenen Stühle setzten. Mit einer knappen Geste entließ er seinen Korporal und erklärte, sobald die Tür sich geschlossen hatte: „Meister Gart hat mir von seinem vergeblichen Versuch berichtet, den Rat davon zu überzeugen, dass der Fremde nicht der Ro’od ist. Der Rat der Ältesten lehnt jedes weitere Gespräch mit Meister Gart ab und verlangt von ihm und seinen Lehrlingen, dass sie heute Abend vor dem Essen ihre Amtsstäbe abgeben. Das Amt des Ratszauberers existiert ab sofort nicht mehr. Deshalb hat Meister Gart mich gebeten, euch in meinem persönlichen Stab aufzunehmen, was ich natürlich tue.“ Das Lächeln, mit dem er daraufhin Gart bedachte, ließ ihn gleich viel menschlicher erscheinen. „Ich habe schon jahrelang von ihm gefordert, er sollte mir wenigstens einen von euch zuteilen. Und nun bekomme ich euch beide und Gart. Willkommen in meinem Stab. Ihr werdet euch sicher schnell einleben.“
Verjak bemühte sich krampfhaft, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, aber ein Blick in Garts schadenfroh grinsendes Gesicht zeigte ihm, dass seine Bemühungen erfolglos waren.
Ka’rak hatte sich schneller gefasst, da er schon fragte: „Warum seid Ihr in die Armee eingetreten? Ich dachte, Seditus hätte euch nahe gelegt, euren Ruhestand zu genießen.“
Marschall Ar’shok lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und beobachtete den Verlauf des Gespräches.
„Ich bestimme immer noch selbst, wann ich meinen Ruhestand genießen werde. Abgesehen davon haben Seditus und einige andere Narren aus dem Rat den ganzen Nachmittag mit dem Fremden gesprochen und sich scheinbar jede Kleinigkeit, die dem Rat über den Ro’od bekannt war, aus der Nase ziehen lassen. Und der größte Narr war ich, da ich immer darauf bestanden habe, dass alle Ratsmitglieder sich in den Prophezeiungen über den Ro’od ebenso gut auskennen wie ich. Nachdem Seditus mir gnädigerweise gestattet hatte, den Fremden zu befragen, war es kein Wunder, dass er in keine meiner Fallen tappte. Also nimmt der Rat an, dieser Mann erfüllt die Prophezeiungen und jagt mich schon heute Abend aus dem Amt. Das Portal wird Seditus Morgen persönlich versiegeln.“
Eigentlich sollte Gart wütend sein, dachte Verjak, stattdessen schien er beinahe ausgelassen zu sein, fast so wie die Menschen auf dem großen Platz. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Er beschloss, am besten abzuwarten und Gart weitererzählen zu lassen, was dieser auch gleich wieder tat.
„Da ich aber dem Rat nicht die Freude machen möchte, heute vor dem Essen meinen Ratsstab abzugeben und dann zu gehen, habe ich meinen alten Freund Ar’shok gebeten, mich für kurze Zeit in seinem Stab aufzunehmen. Damit habe ich dann das Recht, zum Essen zu bleiben, und zwar am Tisch mit dem General und dem Hohen Rat Seditus. Wir müssen alle nur noch eingekleidet werden, dann kann es losgehen.“ Gart rieb sich die Hände voller Vorfreude über den erwarteten Streich. Verjak konnte sich lebhaft vorstellen, wie Seditus förmlich vor Wut kochen würde.
Marschall Ar’shok stand von seinem Stuhl auf und ging zum Fenster, aus dem er nachdenklich auf den Innenhof der Zitadelle herabblickte. Als er sich zu wieder umdrehte, bemerkte er: „Ich möchte eure Vorfreude ja nicht verderben, aber es wird langsam Zeit, euch umzuziehen und eure neuen Quartiere zu beziehen. Wir haben einige Männer losgeschickt, um eure Habseligkeiten vom Tempelbezirk in die Zitadelle zu bringen. Garts Verdacht, der Fremde könnte ein Betrüger sein, hat mich etwas beunruhigt. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, warum er sich als Ro’od ausgeben sollte. Spätestens an der Zitadelle der Götter würde er beim Versuch, sie zu betreten, sterben. Vorsichtshalber habe ich die Wachen in der Zitadelle verstärkt und einen großen Teil meiner Garde hier behalten.“
„Aber der große Platz ist voll von Männern der Garde.“, stellte Verjak fest, als er sich an die betrunkenen Leibgardisten des Marschalls erinnerte.
Ar’shoks Blick durchbohrte Verjak, dann sah er Gart an und erklärte ruhig: „Schade, dass du nicht jünger bist. Zusammen mit dir und meinem Regiment könnten wir im Süden der Horde das Leben wirklich schwer machen. Hoffentlich hast du deinen Schülern alles beigebracht. Sie werden es brauchen können.“ Er wandte sich wieder Verjak und Ka’rak zu.
„Die Männer draußen haben den ausdrücklichen Befehl, aufzufallen und so zu tun, als ob sie hemmungslos trinken würden. Inzwischen sollte der größte Teil meiner Männer wieder in der Zitadelle in ihren Quartieren sein. Das war übrigens ein Vorschlag Garts. Ich wollte sie eigentlich gar nicht in die Stadt lassen. Aber geht jetzt in eure Quartiere. Sie liegen hier im Turm einen Stock tiefer. Die Wache vor der Tür wird euch hinführen. Dort werdet ihr frische Kleidung finden, die angemessener ist für Angehörige der Armee. Wenn wir zum Festsaal aufbrechen, werde ich einen Boten schicken, der euch Bescheid gibt.“
Nun war er wirklich in der Armee. Verjak konnte es kaum glauben. Es war nur seltsam, dass auch Gart jetzt im Stab des Marschalls diente. Das konnte eigentlich nur weitere Lektionen des alten Magiers bedeuten. Wenigstens war er nicht mehr offiziell ihr Lehrer. Er bemerkte, dass Ka’rak schon aufgestanden war und nur noch auf ihn wartete, um dem Befehl des Generals zu folgen. Er stand auf und wollte sich gerade verbeugen, als Gart sich vernehmlich räusperte. Natürlich. In der Armee verbeugte man sich nicht vor seinem Vorgesetzten, sondern man salutierte. Es gab doch noch viel für ihn zu lernen. Nachdem sie mit der rechten Faust den Schlag an die linke Schulter angedeutet hatten, verließen sie den Raum und gingen in ihre neuen Quartiere – und ihre neuen Leben.
General Ar’shok durchschritt vor Gart, Verjak und Ka’rak den Eingang zum riesigen Festsaal, in dem die übrigen Gäste schon vollzählig versammelt waren. Ka’rak suchte die auf einem kleinen Podest stehende Tafel an der gegenüberliegenden Wand nach Seditus ab und fand ihn direkt unter den prunkvollen Wandbehängen im Zentrum der Tafel. Er sah die vier freien Plätze auf seiner rechten Seite und musste Gart und den General für ihre genauen Vorbereitungen einfach bewundern.

 

So sah der Anfang der Zitadelle der Götter aus, bevor ich sie unzählige Male überarbeitet habe. Wahrscheinlich wimmelt der Entwurf vor Fehlern, doch da es sich um einen sechzehn Jahre alten Entwurf handelt, dürfen die Fehler unkorrigiert weiterleben 🙂