Odoths Schatten – Leseprobe

Odoths Schatten – Leseprobe

PROLOG

In wenigen Wochen jährte sich Braodoths Überfall auf Anwardat zum zweiten Mal.

Die Beseitigung der Schäden, eigentlich eher ein vollständiger Wiederaufbau der gebrandschatzten nördlichen Stadtteile, verlief nur schleppend. Dort, wo sich einst prunkvolle Paläste erhoben hatten, gediehen junge Schösslinge zwischen Schutt und geschwärzten Mauerresten. Wo früher das kommerzielle Herz Anwardats geschlagen hatte, im Marktviertel, schlichen höchstens noch Ratten – sowohl zwei- als auch vierbeinige – umher.

Und sogar an dem Ort, der Anwardat weit über Morwindels Grenzen hinaus bekannt gemacht hatte, dem Tempelbezirk, waren noch längst nicht alle Trümmer beseitigt. Zwar war die Renovierung des großen Usiltempels etwa zur Hälfte abgeschlossen – jedenfalls das Gebäude, die äußere Hülle – doch weder an der berühmten Bibliothek noch an der Akademie wurde überhaupt gearbeitet.

Die dreißig Schritt hohe Usilstatue wachte über die trostlosen, menschenleeren Überreste des Ortes, der einmal das spirituelle und akademische Zentrum Morwindels gewesen war. Während der Kämpfe vor knapp zwei Jahren hatte sie einen Arm und ihre rechte Kopfhälfte eingebüßt.

Über das Gesicht des unauffällig gekleideten Mannes, der gerade die Morwind-Fähre verließ, huschte ein Lächeln. Wie es aussah, behielt sein Kommandant recht. Morwindel war angeschlagen und in Kürze würde er diesem Land, das die Quelle allen Übels war, einen weiteren schweren Schlag versetzen, für den sein Leben ein geringer Preis war. Und in den kommenden Monden wollten viele seiner Brüder ganz ähnliche Missionen erfüllen, die Morwindel letztendlich in die Knie zwingen würden.

Die beiden Hohen Räte waren in seinen Augen verabscheuungswürdige, dreckige und verderbte Magier, die es nicht verdient hatten, dieselbe Luft zu atmen wie echte Menschen. In ihr Gespräch vertieft waren sie viel zu weit hinter ihren Wachen zurückgeblieben. Er betete zu Tuemal, dem allmächtigen Jäger, und schlenderte langsam in einem leichten Bogen auf die beiden zu. Einem flüchtigen Beobachter würde sich sein wahres Ziel auf diese Weise erst im allerletzten Moment offenbaren.

Die wenigen Augenblicke, die er benötigte, um die Distanz zu den Magiern bis auf zwanzig Schritt zu verkürzen, schienen sich zu einer Ewigkeit auszudehnen. Ein vertrautes Gefühl von früheren Aufträgen, das er leider zum letzten Mal genießen durfte.

Dann war es endlich so weit. Im Schutz seines weiten Umhangs zog er die beiden langen, vergifteten Dolche. Aus Erfahrung wusste er, dass sein Opfer sogar dann dazu verdammt war, an einem entsetzlichen Fieber zu sterben, wenn er das Herz verfehlte. Aber das würde nicht geschehen. Nicht umsonst war gerade ihm dieser schwierige Auftrag erteilt worden. Von ihm geführte Waffen fanden ihr Ziel. Immer.

Die Räte hatten ihn noch immer nicht bemerkt. Sie wandten ihm sogar den Rücken zu und gestikulierten in Richtung der Zitadelle. Noch sechs Schritt. Jegliche Zurückhaltung aufgebend ließ er seinen Umhang zu Boden gleiten, für den er nach seinem Tod ohnehin keine Verwendung mehr haben würde. Wenigstens konnten sich jetzt die Dolche nicht mehr darin verfangen.

Noch bevor das Kleidungsstück im Staub lag, streifte der erste Blitz den Attentäter. Und als die Dolche aus seinen gefühllosen Fingern glitten, schoss ihm das Wort Verrat durch den Kopf.

Es sollte auch sein letzter Gedanke sein, denn unmittelbar danach bereiteten zehn Blitze, die ihn gleichzeitig trafen, seinem Leben ein Ende.

Unweit des zusammengesunkenen Attentäters, auf der Mauer der Zitadelle, standen Ongar haut Anward und Nandon bas Garvis mit einem weiteren Mann, der die beiden finster anblickte. »Glaubt ihr mir jetzt? Die Standhaften wurden beauftragt, ihre besten Mörder nach Morwindel zu schicken, um unter euren Magiern ein Blutbad anzurichten. Und sehr weit oben auf der Liste der Ziele finden sich eure Namen. Wie ihr seht, gehen meine Herren ein erhebliches Risiko ein. Sie werden nur dann gegen den Jäger rebellieren, wenn sie unter vier Augen mit einem Hohen Rat sprechen können. In Kalatora. Ich benötige eure Antwort. Jetzt gleich.«

Die beiden Räte blickten sich einen Moment an. Ongar nickte Nandon zu, der daraufhin nur mit einem Achselzucken reagierte.

»Also gut. Ein Hoher Rat wird sich mit euren Herren treffen«, stimmte Nandon schließlich widerstrebend zu. »Die Vorbereitungen werden jedoch einige Zeit beanspruchen.«

»Ich hätte auch schon eine Idee, welcher Hohe Rat diese ehrenvolle Aufgabe übernehmen könnte.« Ongars Augen blitzten voller Vorfreude.

KAPITEL I

Besucher

Fassungslos starrte Ka’rak auf die in einem kränklichen gelbgrün schimmernde Kuppel, die sich am anderen Morwindufer über einer kleinen Gruppe von Hordenmagiern erhob. Als Hunderte giftgrüner Bänder aus der Halbkugel hervorbrachen und sich auf verschlungenen Pfaden ihren Weg zwischen den mühevoll errichteten Schildbannen bahnten, hielt er gespannt den Atem an. Keines von ihnen erreichte das südliche Brückenende und Ka’rak beruhigte sich etwas. Kaum war das letzte Band verschwunden – es war etwa dreißig Schritt vor der vordersten Pikenierlinie harmlos in den Brückenbelag eingeschlagen – kamen einige hundert Reiter aus dem Tempelbezirk gestürmt und ritten unter martialischem Kriegsgeschrei auf die Brücke zu. Beinahe gleichzeitig erschienen abermals Bänder über der Kuppel, die Ka’rak jedoch ignorierte. Bei dieser Form der Magie war höchstens ihr Aussehen beeindruckend, nicht ihre Wirkung.

Fasziniert beobachtete Ka’rak, wie die Reiter die Brücke überquerten und die ersten, von Pfeilen getroffen, aus ihren Sätteln fielen. Jeden Moment trafen die Angreifer auf den dichten Wall aus Schilden und Piken. Dann würde sich zeigen, ob Massads Plan funktionierte. Plötzlich brachen etliche der Pikeniere unter entsetzlichen Schmerzensschreien zusammen und eine Woge aus Pferdeleibern überrollte förmlich Massads Verteidigung …

Schweißgebadet erwachte Ka’rak. In letzter Zeit häuften sich seine Albträume. Erfahrungsgemäß schlief er ohnehin nicht mehr ein, also konnte er genauso gut aufstehen. Er wusch sich mit dem eiskalten Wasser vom Vorabend und zog eine frische Tunika mit dem aufgestickten Wappen Morwindels an, wobei er sogar die Schärpe des Seniorhauptmannes nicht vergaß. Nachdem er das schwere Kettenhemd angelegt hatte, trat er auf den Gang vor seinem Quartier. An jedem Ende wachte ein schwerbewaffneter Gardist über Ka’raks Sicherheit, eines der Zugeständnisse, die Ka’rak nach Garts schockierenden Enthüllungen über seine Herkunft vor über einem Jahr gemacht hatte. Ob es jetzt den Wachen zu verdanken war oder ob Gart sich schlichtweg geirrt hatte, wusste Ka’rak nicht. Aber seit er nach seiner Heilung in Altors Portal erwacht und zum neuen Kommandanten der Garnison ernannt worden war, hatte es weder weitere Anschläge auf sein Leben noch Entführungsversuche gegeben.

Er nahm die nördliche Treppe, woraufhin der Posten salutierte und mit seinem Fuß aufstampfte. Ka’rak gelang es gerade noch, ein Grinsen zu unterdrücken, als er sich ausmalte, wie am unteren Treppenabsatz Bewegung in die vor sich hin dösenden Wachen kam und sie Haltung annahmen.

Wie erwartet standen die beiden Männer von der Treppe abgewandt und hielten in dem schwach beleuchteten Gang nach nicht vorhandenen Gefahren Ausschau. Bei ihrem beträchtlichen schauspielerischen Talent hätten sie auch jederzeit ein sicheres Auskommen in einer der zahlreichen, kreuz und quer durch die Länder östlich des Drachenzahngebirges ziehenden Künstlertruppen finden können, die ihr Publikum mit Aufführungen von Heldensagen unterhielten.

Ka’rak nickte den Männern zu und betrat seine kleine, bescheidene Bibliothek. Die meisten Bücher stammten aus Pelain, wie auch der Großteil der Einrichtung seines Hauptquartiers. Bei der Vergabe seines neuen Lehens hatte Gart bestimmt auch wieder im Hintergrund die Fäden gezogen. Anlässlich der Gedenkfeier zum Überfall auf Anwardat in der dortigen Zitadelle vor genau einem Jahr hatte Chendahir haut Lukars ihm mitgeteilt, dass der Familie Altor das Lehen von Pelain entzogen wurde. Ka’rak musste wie ein Narr vor Chendahir gestanden haben, als der greise Herr von Sha’Shan gemeinsam mit Ga’dion haut Palan und Tessar bas Madrigor zu ihm getreten waren und ihm verkündet hatten, in Anerkennung seines unschätzbaren Einsatzes zum Wohle Morwindels sei sein neues Lehen Raan, das gesamte Gebiet des unwirtlichen Raanforsts. In dem Moment war Ka’rak sogar zu überrascht gewesen, um zu registrieren, dass sich ausgerechnet die drei Hohen Räte darauf geeinigt hatten, ein grenzüberschreitendes Lehen zu vergeben, deren Vorfahren im Kampf um die Herrschaft über genau diesen Landstrich unzählige Male Blut vergossen hatten. An diesem Tag war auch der Traum, sich nach seiner fünfjährigen Dienstzeit einfach in Pelain zur Ruhe zu setzen, gestorben. Flächenmäßig war Raan zwar gewaltig, nicht viel kleiner als die ehemaligen Königreiche Palan und Madrigor, aber im gesamten Waldgebiet lebten wahrscheinlich weniger Menschen als in Anwardat und seiner unmittelbaren Umgebung. Schon während der Feier hatte Ka’rak befürchtet, es würde einen immensen Aufwand erfordern, dieses dünnbesiedelte Areal einigermaßen zu verwalten. Inzwischen wusste er, dass er die Schwierigkeiten sogar unterschätzt hatte. Um den Besitzern der weit verstreuten Gehöfte klarzumachen, warum sie plötzlich Abgaben leisten sollten, musste er buchstäblich jeden einzelnen persönlich besuchen.

Im Großen und Ganzen war das vergangene Jahr sogar noch unangenehmer verlaufen als das davor, denn seit der Gedenkfeier hatte er keinen seiner alten Gefährten mehr gesehen. Markob war zu Marschall Ar’shok zurückgekehrt, Hauptmann Massad hatte man zum Herrn von Pelain ernannt, eine unglaubliche Ehre für einen Nichtmagier, und hielt sich gegenwärtig als neuer Botschafter Morwindels in der dorganischen Hauptstadt Kep Anor auf. Chian war zum Hauptmann befördert worden und befand sich immer noch in Kaylisia, gemeinsam mit Edinor, der während seiner Suche nach Marschall Ar’shok zwei kaylisische Magierinnen aus der Gewalt von General Bartosians Standhaften befreit hatte. Verjak trieb sich irgendwo weit im Süden herum, wo er womöglich gerade ums nackte Leben mit Kieman und Dar-Arbat kämpfte. Doch am meisten vermisste er Errin, die Gart begleitete, um ihren Großvater besser kennenzulernen. Ongar war zwar nicht gerade begeistert gewesen, als Gart ihm mit seinem Muttermal bewiesen hatte, dass Errin nicht Seditus’ Tochter war, musste am Ende jedoch nachgeben und sie ziehen lassen. So war aus Errin haut Anward Errin Verinas geworden. Ka’rak freute sich für die beiden, aber die Gespräche, bei denen sie ihm den Kopf zurechtgerückt hatte, fehlten ihm.

Er lachte in sich hinein. Hier stand er in seiner stockfinsteren Bibliothek und bemitleidete sich selbst. Dazu hätte Errin bestimmt einige deutliche Worte zu sagen.

Bevor er wieder in sinnlosem Grübeln versinken konnte, entzündete er mit einem haarfeinen Feuerstrahl die halb abgebrannte Kerze auf dem Tisch am Fenster. Nun war die Bibliothek zumindest hell genug, um die Titel auf den vom Alter dunkel gewordenen Buchrücken entziffern zu können. Um die langen Stunden bis zum Sonnenaufgang totzuschlagen, suchte er sich wohl besser eine interessante Lektüre.

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Verjak zögerte am Eingang zu Ka’raks Hauptquartier. Es war nicht sehr höflich, so früh am Morgen, eigentlich eher mitten in der Nacht, unangekündigt an die Tür zu klopfen. Aber zum einen verspürte er keinerlei Lust, in diesem entsetzlichen Morgennebel wartend herumzustehen und zum anderen reizte es ihn, Ka’rak gründlich zu überraschen.

Also benutzte er den kunstvoll geschmiedeten Türklopfer in Form einer Schriftrolle. Grinsend schüttelte Verjak den Kopf. Auf so einen Gedanken konnte auch nur Ka’rak kommen. Er wollte gerade ein zweites Mal klopfen, als eine Magd die Tür öffnete und ihn aus verschlafenen Augen anblinzelte. Sobald sie seine Kleidung eingeordnet hatte, stieß sie einen schrillen Schrei aus und verschwand so schnell in einem der in die Eingangshalle einmündenden Gänge, dass sie dabei das um sich gewickelte Bettlaken verlor. Vielleicht hätte er darauf verzichten sollen, einen traditionellen grauen, mit Wolfspelz abgesetzten Jolpur-Umhang zu tragen. Schließlich kam den Einwohnern Morwindels beim Anblick eines Bewaffneten im Hordengrau zuerst Braodoths Überfall auf Anwardat in den Sinn. Doch Braodoth war tot und der Drachenclan verfügte nur noch über einen bescheidenen Bruchteil seiner einstigen Macht. Außer den Abtrünnigen Clans der Jolpur, die sich im Grenzgebiet zwischen Kaylisia und Phaetos niedergelassen hatten, befand sich kein einziger Jolpur nördlich der Wüste.

Wenigstens beschäftigte Ka’rak ausgesprochen hübsche Dienerinnen. Hoffentlich hatte er endlich angefangen, sein Leben zu genießen. Verjak starrte immer noch dem Mädchen hinterher, als aus einem Flur Ka’rak mit zwei Wachen auftauchte, vollständig bekleidet mit Kettenhemd und gezogenem Schwert. Er sah sogar noch zäher aus als vor einem Jahr. Seine Schultern waren breiter und er bewegte sich jetzt endgültig mit der tödlichen Geschmeidigkeit eines Meisters im Schwertkampf. Nur seine schwarzen, störrischen Haare sahen immer noch so aus, als sei er gerade aus dem Bett gefallen.

Ka’rak riss vor Überraschung seine braunen Augen weit auf. »Verjak. Was sind das für Zotteln in deinem Gesicht? Ich habe dich kaum erkannt.« Mit einer unbewussten Bewegung verschwand Ka’raks Schwert wieder in seiner Scheide.

Verjak grinste. »Haben sich die morwindellischen Sitten im letzten Jahr so sehr geändert, dass man alte Freunde zur Begrüßung beleidigt? Das sind keine Zotteln, sondern ein Bart. Tajana war der Ansicht, ohne sähe ich halb nackt aus.«

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Mit dem wilden Vollbart hatte Ka’rak Verjak wirklich beinahe nicht wieder erkannt. Aber hinter diesem haarigen Vorhang zeichnete sich das spitzbübische Grinsen seines Freundes ab und auch ansonsten hatte sich Verjak kaum verändert. Allerdings wirkte er mit der gewaltigen Doppelaxt auf dem Rücken und einem altertümlichen Schuppenpanzer sogar noch größer als vier Schritt. Zusammen mit dem dunkelblonden Bart sah er jetzt tatsächlich aus wie ein breitschultriger, verwegener Krieger, bei dem man niemals vermuten würde, dass er ein Magier war.

»Wenn du ihr so gefällst, will ich nichts sagen. Aber was verschlägt dich an diesen abgelegenen Ort? Hat Tajana dich davongejagt, weil du einer anderen Frau hinterher gestarrt hast?«

»Gewissermaßen«, gestand Verjak kleinlaut. »Tajana erwartet ein Kind.«

Ka’rak konnte sich Verjak als vieles vorstellen, aber niemals als Vater. Wahrscheinlich würde er sein Kind für jeden Streich loben und es dazu anhalten, möglichst wenig zu lernen. »Das ist doch wunderbar. Solltest du dann nicht in ihrer Nähe sein?«

»Ich habe es dir niemals erzählt, aber Tajana hat mich bei unserer Flucht mit einer Magie geheilt, die ein Band zwischen uns geknüpft hat. Seitdem können wir gegenseitig unsere Stimmungen und Gefühle erfassen.«

Wollte Verjak ihn zum Narren halten? Was er da erzählte, war vollkommen unmöglich. Aber Verjak sah todernst aus, eine Seltenheit.

»In den letzten Wochen sind Tajanas Stimmungsschwankungen unerträglich geworden. Ihre Mutter Maona sagte, das sei während der Schwangerschaft völlig normal und empfahl mir, mich bis nach der Geburt nach Möglichkeit von Tajana fernzuhalten. Also beschloss ich, einfach einige Freunde in meiner alten Heimat zu besuchen.«

»Lass’ uns erst einmal frühstücken«, sagte Ka’rak nach einer Weile, da er nicht wusste, wie er sonst auf das gerade Gehörte reagieren sollte.

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Hinter Ka’rak betrat Verjak eine hell erleuchtete Bibliothek. Neben einem bequem aussehenden Sessel wurden auf einem Tisch einige aufgeschlagene Bücher halb von einem unordentlichen Stapel Pergament, Feder und Tintenfass verdeckt. Ganz zuoberst lag eine zerlesene Ausgabe von Hok’sars Über den Krieg. Darunter erkannte er Anselm haut Lukars’ Dunkelheit. Das Reich von Ceras.

»Du beschäftigst dich mit gefährlichen Dingen, Ka’rak. Solltest nicht gerade du als rechtmäßiger Herrscher von Ceras alles vermeiden, was auch nur im Entferntesten mit Ceras zu tun hat?«

»Vielleicht«, erwiderte Ka’rak achselzuckend. »Aber ich mache mir am liebsten selbst ein Bild. Und dazu muss ich die Sichtweise beider Seiten kennen. Wusstest du, dass Lukars’ Dunkelheit die Lebensumstände in Ceras beinahe wortwörtlich genauso beschreibt wie der Kalatoraner Gunhar jedes von Magiern beherrschte Land? Ich frage mich nur, wer von wem abgeschrieben hat, da Gunhar und Anselm Zeitgenossen waren.«

Vorsichtig wurde die Tür geöffnet und dasselbe Mädchen, das vor Verjaks Anblick am Eingang geflohen war, kam mit einem vollgeladenen Tablett herein. Mit ordentlich gekämmten Haaren und aus dem Gesicht gewaschenen Schlaf sah sie sogar noch besser aus, als Verjak vermutet hatte. Während sie einen Tisch deckte, schielte sie ständig mit großen Augen zu Ka’rak herüber.

»Danke, Selina. Du kannst wieder gehen«, bemerkte Ka’rak, als sie ihr Tablett beiseite räumte und sich neben den gedeckten Tisch stellte. Selina errötete, machte einen unbeholfenen Knicks und verließ fluchtartig die Bibliothek.

»Sie ist hübsch«, stellte Verjak sachlich fest.

Ka’rak nickte. »Ja. Genau wie Patra, Lerdanne, Elsi und Felya. Seit Lisp hier ist und herausgefunden hat, dass ich mein Pferd nach ihm benannt habe, gibt er sich alle erdenkliche Mühe, mich in Verlegenheit zu bringen. Er glaubt wohl, ich beginne zu stammeln, wenn er nur eine Magd findet, die attraktiv genug ist. Ich bete jeden Tag zu den Göttern, dass er nicht auch die Köchin ersetzt. Ihm wäre es durchaus zuzutrauen, seine Entscheidung ausschließlich aufgrund des Aussehens zu treffen.«

»Du solltest endlich anfangen, dein Leben zu genießen, Ka’rak. Sieh’ dich doch nur um. Du bist umgeben von bildschönen Mädchen, die dich wahrscheinlich allesamt genau wie Selina anhimmeln und verbringst deine Nächte alleine in der Bibliothek mit Büchern, die dich Kopf und Kragen kosten können.«

Ka’rak blickte sich gehetzt um, was Verjak zum Lachen brachte. Sein alter Freund mochte zwar nicht mehr die Sprache verlieren, wenn ihn einmal ein weibliches Wesen ansah, aber in ihm steckte noch immer derselbe Junge, der während seiner gesamten Ausbildung unzählige Male unter ebendieser Schüchternheit gelitten hatte.

Wieder öffnete sich die Tür und herein stürzte – ausgerechnet – Errin. Direkt in Ka’raks Arme, der sie linkisch umarmte und vor Verlegenheit einen hochroten Kopf bekam.

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Ka’rak befreite sich mühsam aus Errins Umarmung. Wie oft hatte er im letzten Jahr davon geträumt, sie zu umarmen? Daran durfte er nicht einmal denken. Gart würde ihm eigenhändig den Kopf abreißen. Warum sah Verjak aus, als habe er gerade in einen sauren Apfel gebissen, nachdem er eben doch noch gefordert hatte, Ka’rak solle sich am besten in Abenteuer mit jeder seiner Mägde stürzen.

»Wo kommst du denn her? Steht Gart etwa auch vor der Tür?«

»Eigentlich wollte ich nur meinen neuen Kommandeur besuchen. Nachdem ich Senis überzeugen konnte, dass meine Kenntnisse mehr als ausreichend für eine Kriegsmagierin sind, ließ er mir die Wahl, ob ich nach Mormund oder Altors Portal wollte. Den ewigen Gestank in Mormund ertrage ich nicht und zufällig kenne ich den Kommandanten von Altors Portal. Also kam ich hierher«, erklärte Errin lachend. Als sie ihren Umhang unachtsam zu Boden fallen ließ, leuchteten ihre blaugrünen Augen vor Freude. Etwas verlegen spielte sie mit einer Strähne ihres langen, goldblonden Haars. »Außerdem ist Gart vor einiger Zeit zu einer diplomatischen Mission nach Norden zu den Chezari aufgebrochen und hat sich geweigert, mich mitzunehmen.«

Der Jahrestag des Überfalls auf Anwardat brachte jedes Mal Überraschungen mit sich. Doch bisher waren alle eher erfreulich. Immerhin befanden sich jetzt seine beiden besten Freunde bei ihm. Vielleicht würde sich in diesem Jahr ausnahmsweise sein Leben einmal zum Besseren ändern.

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»Hallo Verjak. Der Bart steht dir. Ist Tajana auch hier?«

Verjak grinste sie an. Vor zwei Jahren hatte es Errin bei diesem Grinsen beinahe die Sprache verschlagen, doch seitdem hatte sich vieles geändert.

»Nein. Sie ist im Moment auf dem Rückweg zum Sommerlager des Schlangenclans. Ich wollte nur Ka’rak besuchen und eventuell etwas Zeit mit ihm verbringen, bevor ich zum Maurissee aufbreche.«

»Verjak wird Vater und seine Schwiegermutter hat ihm nahegelegt, sich erst wieder nach der Geburt blicken zu lassen«, ergänzte Ka’rak Verjaks Aussage lächelnd.

Ka’rak hatte Errin überrascht. Auf eine düstere Art sah er sogar gut aus. Inzwischen war es unmöglich, ihn zu übersehen. Wie er im vorletzten Jahr in die Uniform des Hauptmanns hineingewachsen war, so wirkte er jetzt beinahe königlich. Unnahbar und distanziert war er ja schon in Anwardat gewesen, aber mittlerweile stand er neben dem fast einen Kopf größeren Verjak und es gelang ihm trotzdem, mit seiner Präsenz den Raum zu beherrschen. Nach Garts Offenbarung über seine Herkunft hatte sie zunächst befürchtet, Ka’rak könne unter der Last zusammenbrechen, doch er war im Gegenteil nur stärker geworden.

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Genau davor hatte Verjak seit einem Jahr Angst. Ka’rak benahm sich Errin gegenüber völlig unbefangen, scheute noch nicht einmal vor ihrer Berührung zurück. Und Errin war sichtlich beeindruckt von dem, was sie sah. Die beiden waren vernarrt ineinander, gestanden es sich aber nicht ein. Möglicherweise sollte er einmal unter vier Augen mit Ka’rak sprechen, ihn über Errins Gefühle aufklären. Seit ihrem letzten Treffen hatte Errin sich kaum verändert. Etwas kleiner als Ka’rak, sehr schlank und obwohl Verjak seine Frau Tajana von ganzem Herzen liebte, vergaß er trotzdem beinahe zu atmen, wenn Errin ihn anlächelte. Dieses Mädchen hätte zwar jederzeit ihr Antlitz einer Skulptur von Dorwari, der Göttin der Güte, leihen können, besaß aber mitunter das Temperament des ungeduldigen Kriegsgottes Werkor. Eigentlich würde zu Ka’rak eine sanftere, warmherzigere Frau passen, doch vielleicht wäre Errin dank ihrer Erziehung die perfekte Gefährtin für den viel zu naiven Ka’rak.

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Gerade ging die Sonne unter und noch immer war keine Katastrophe über ihnen hereingebrochen. Ka’rak hatte sogar seine Schwertübungen vernachlässigt. Er wollte jeden einzelnen kostbaren Augenblick mit Verjak und Errin genießen, um zwanglos über alte Zeiten zu plaudern. Dafür hörte er sich auch gerne zum tausendsten Mal Verjaks Erzählung an, wie er einmal dabei erwischt worden war, als er gerade das Gesicht einer Odothstatue im Tempelbezirk mit grüner Farbe bepinseln wollte. Momente wie dieser waren viel zu selten. Ständig galt es, wichtige Entscheidungen zu treffen oder bedeutende Männer verlangten eine Audienz bei Kommandant Altor. Darum musste man jeden einzelnen Augenblick wertschätzen. Vielleicht konnte Errin ihm verraten, wie ihr Vater es geschafft hatte, auch einmal seine Ruhe zu haben.

Errin beschrieb gerade, wie unwohl Senis sich fühlte, wenn er angehenden Magierinnen etwas erklären sollte, als Felya hereinkam und ihn ängstlich ansah. »Was ist, Felya? Warum siehst du mich an, als sei dir gerade ein Geist über den Weg gelaufen?«

»Herr. Es ist … Draußen. Auf dem Hof. Der Hohe Rat.«

»Welcher Hohe Rat ist es? Schon gut. Ich begrüße ihn.« Was wollte ein Hoher Rat von ihm? »Wollt ihr mich nicht begleiten? Nur für den Fall, dass es Ongar oder Nandon ist. Sie werden mich wohl kaum in Verjaks Gegenwart umbringen. Immerhin ist er der Schwiegersohns des Mannes, der die Dar-Arbat von uns fern hält.«

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Der gesamte Hof war von Fackeln erleuchtet. Ka’rak musste zweimal zählen. Zehn. Alle zehn Hohen Räte standen tatsächlich vor ihm.