Sibitas Fluch – Leseprobe

Sibitas Fluch – Leseprobe

PROLOG

»Wann können wir endlich mit dem Verladen der Männer beginnen?«, wandte Marschall Ar’shok sich an Bethan Sidoro, als er gebückt die Kapitänskajüte betrat.

Bethan blickte von seinem Holzbein auf, an dem er herumgeschnitzt hatte. »Wie oft soll ich es noch sagen? Je früher wir die Männer verladen, umso mehr Vorräte müssen wir an Bord schaffen. Deshalb verlade ich eure Truppen erst kurz vor dem Ablegen. Niemandem ist damit gedient, wenn eure tapferen Krieger tagelang in den engen Laderäumen der Schiffe eingepfercht sind.«

Ar’shok musste dem katarisischen Piraten recht geben. Bethan Sidoro sah mit seinen breiten Schultern, den muskulösen Armen und den gewaltigen Pranken, die einem Bären zur Ehre gereicht hätten, aus, als könne er kaum bis drei zählen. Eine Narbe, die seine linke Kopfhälfte entstellte, ließ ihn noch weniger wie einen Mann aussehen, der ausgiebig und lange nachdachte. Doch hinter seinem grobschlächtigen Äußeren verbarg er einen messerscharfen Verstand. Und der Marschall hatte den Verdacht, dass es dem Piraten ein diebisches Vergnügen bereitete, wenn alle Welt ihn unterschätzte. »Ich verstehe euch. Allerdings werden meine Männer langsam unruhig. Ich habe sie hier zusammengezogen und jetzt haben sie nichts anderes zu tun, als zu warten. Sie sehen hunderte Schiffe vor Anker liegen, jeden Tag kommen gut gelaunte Seeleute an Land, doch meine Männer frieren in ihren Zelten.«

Sidoro richtete seine dunklen Augen auf den Marschall. »Wenn sie schon in ihren Zelten frieren, wo sie nichts zu tun haben außer behaglich an ihren Feuern zu sitzen und mit ihren Heldentaten zu prahlen, wie würde es ihnen dann an Bord der Schiffe ergehen? Sie könnten kein Feuer machen und müssten in ihrer feuchten Kleidung die Kälte ertragen. Für das Wetter kann ich nichts. Und solange der Wind nicht dreht, sollten wir besser nicht auslaufen. Glaubt mir, Marschall. Die meisten eurer Männer werden Bekanntschaft mit der Seekrankheit machen. Spätestens dann wird jeder einzelne von ihnen euch verfluchen und sich wünschen, das Land niemals verlassen zu haben. Deshalb sollten sie sich so kurz wie möglich an Bord der Schiffe aufhalten. Wenn wir gegen den Wind kreuzen müssen, dauert die Überfahrt an die ragardische Küste über eine Woche. Von Männern, die seit einer Woche keinen Bissen bei sich behalten konnten, dürft ihr nicht erwarten, sich wie Werkor auf die Feinde zu stürzen, falls es unmittelbar nach der Landung in Ragard zu Kämpfen kommt.«

Bevor Ar’shok antworten konnte, sprang Sidoro von seinem Stuhl auf und hüpfte auf einem Bein an das Fenster, dass die hintere Wand seiner Kabine einnahm. »Ist etwas passiert?«, erkundigte der Marschall sich stirnrunzelnd.

Wortlos deutete Sidoro auf einen rasch größer werdenden Lichtschein. »Dort draußen sollte nur ein halbes Dutzend Galeeren sein, die uns vor bösen Überraschungen bewahren. Jian, Karzsani und ich haben ihnen verboten, bei Dunkelheit Laternen zu benutzen. Und dieses Licht ist für ein Laterne definitiv viel zu groß. Wenn ich mich nicht irre, können eure Magier gleich zeigen, ob sie in einer Seeschlacht wirklich zu gebrauchen sind.«

Fluchend warf Ar’shok sich seinen Schwertgurt über, griff nach seinem Umhang und stürzte aus Bethans Kajüte. Offenbar war nicht nur Sidoro der rätselhafte Lichtschein aufgefallen. Von überall her kamen barfüßige, bewaffnete Seeleute und liefen grinsend zu ihren Gefechtsstationen. Zwei morwindellische Kampfmagier, die der Marschall auf Bethans Schiff abkommandiert hatte, sahen wirklich so aus, als habe die Seekrankheit sie ein wenig mitgenommen. Doch auch sie waren an Deck und starrten gebannt auf das immer größer werdende Licht.

»Ich hätte es wissen müssen!« Ebenso gut hätte Sidoro in seinem unverständlichen katarisischen Kauderwelsch sprechen können. Ar’shok konnte sich nicht zusammenreimen, was der Pirat meinte. »Chillon soll meinen verfluchten Bruder auf den Grund des Meeres schicken. Dieser gerissene Bastard hat Verräter zu uns geschickt. Und das,« deutete Sidoro auf den Lichtschein, »ist ein Brander.«

»Was bei allen gnädigen Göttern ist ein Brander?« Da Ar’shok noch nie etwas davon gehört hatte, musste es irgendetwas sein, was nur in der Seefahrt benutzt wurde. Einmal mehr bereute er, in seinem ganzen Leben kaum einen Gedanken an die Flotte verschwendet zu haben.

»Da! Jetzt sind es schon drei.« Bethan wandte seinen Blick nicht von den drei näherkommenden Lichtern ab. »Ein Brander ist ein Schiff, das man anzündet und es vom günstigen Wind in eine Ansammlung ankernder Schiffe treiben lässt. Man kann die Wirkung sogar noch verstärken, indem man Öl oder noch besser Drachenöl in den Laderaum packt.«

Ar’shok war so stolz gewesen, als immer mehr Schiffe hier in der Re’iki-Mündung angekommen waren. Er durfte keines verlieren. »Bringt die Schiffe mit Luftklingen zum sinken, sobald ihr sie ausmachen könnt«, rief er den beiden Magiern zu. Erleichtert registrierte er, dass sie grinsend nickten. Er drehte sich wieder zu Sidoro um. »Wenn ihr irgendeine Möglichkeit habt, zu den übrigen Schiffen Kontakt aufzunehmen, solltet ihr den Magiern dort denselben Befehl geben. Euer verdammter Bruder wird hoffentlich keine katarisischen Magier gefunden haben, die verrückt genug sind, an Bord eines brennenden Schiffes Schildzauber zu wirken.«

Mittlerweile kamen nicht weniger als zehn Schiffe auf die Flotte der abtrünnigen katarisischen Kapitäne zu. Eines der brennenden Segelschiffe musste jeden Moment die ankernden Schiffe erreichen. Ar’shok hielt gebannt den Atem an, als das führende Boot zwei Galeeren knapp verfehlte, doch jetzt geradewegs auf Sidoros Flaggschiff zusteuerte. Die ersten Luftklingen rasten auf das lichterloh brennende Schiff zu. Erleichtert registrierte er, dass sie ihr Ziel fanden und die Planken des Branders durchschlugen. Trotzdem kam das Schiff unaufhaltsam näher. Plötzlich fiel ein Mast über Bord und das Meer selbst stand in Flammen. Einen Augenblick später explodierte der Brander wie ein Vulkan und überschüttete das Meer im Umkreis von mehreren hundert Schritt mit flüssigem Feuer. Wie durch ein Wunder wurde Bethans Flaggschiff nicht getroffen. Die beiden Galeeren hatten weniger Glück. Sie standen lichterloh in Flammen.

Sidoro fluchte. »Drachenöl! Farlion wollte besonders gerissen sein und muss jetzt den Preis dafür zahlen. Die Luftklingen eurer Magier durchlöchern die Ölfässer im Laderaum und sobald etwas in eine Öllache fällt, wird es allen anderen Brandern ebenso ergehen wie dem ersten. Mein närrischer Bruder konnte noch nie etwas mit Magie anfangen.«

»Das hilft den Besatzungen der Galeeren allerdings auch nicht«, merkte Ar’shok skeptisch an.

Sidoro zuckte die Achseln. »Hätte einer der beiden Kapitäne Kurs auf den Brander genommen, würde der andere noch leben. Seht selbst.« Er deutete auf eine andere Galeere, die förmlich über das Wasser flog, um einen der Brander abzufangen. Doch bevor sie ihr Ziel erreichte, explodierte ein Brander nach dem anderen. Mindestens drei weitere Schiffe aus Bethans Flotte fielen dem Angriff zum Opfer, aber die Seeleute, die Ar’shok sah, genossen das Schauspiel des brennenden Meeres. Das Schicksal ihrer ertrinkenden Kameraden schien sie kalt zu lassen. Einige tanzten ausgelassen, doch die meisten gingen so schnell wie möglich unter Deck, als ein neuer Wolkenbruch das Deck zu fluten drohte. »Wollt ihr eure Männer immer noch so schnell wie möglich verladen, Marschall?«, erkundigte Bethan sich grinsend.

Ar’shok drehte sich um und entfernte sich von Bethan. Wahnsinn! All diese katarisischen Piraten waren vollkommen verrückt.

✽       ✽

Als Lomaxes nach seiner Gefangennahme endlich wieder aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, hatten ihn einige sehr wütende Piraten mit ihren Fäusten malträtiert. Bis schließlich ihr Anführer, Kapitän Melano, aufgetaucht war und Lomaxes Gold und Frauen versprochen hatte, wenn er ihm einfach verriet, was Bethan plante. Oder falls er sich entschied, weiterhin zu schweigen, würde Melano ihn weiter seinen Männern überlassen.

Lomaxes war loyal geblieben und hatte geschwiegen. Zur Strafe hatten Melanos Piraten ihn zwar verprügelt, doch immerhin lebte er noch. Im Anschluss an die Misshandlungen hatte man ihn auf ein Schiff geschafft, ihn bis auf seine Hose ausgezogen und ihn neben einen anderen Mann an ein Ruder gekettet. Sofort war Lomaxes aufgefallen, dass nur sehr wenige wie er auf dieser Galeere an ein Ruder gekettet waren. Die meisten Ruderer konnten sich frei an Bord bewegen. Sie aßen, lachten und tranken mit den bewaffneten Piraten und schienen vollwertige Mitglieder der Mannschaft zu sein.

Für Lomaxes und die übrigen Gefangenen sah das Leben an Bord der Galeere weniger angenehm aus. Das Essen war kaum genießbar und Lomaxes hatte ständig Durst. Seine strähnigen, schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht und alles, was er vor sich sah, war das Ruder und der knochige Rücken eines anderen Gefangenen, der wie er an seine Bank gekettet war. Als er am Bord der Chillons Segen hinter der Jians Blut nach Nilan gesegelt waren, hatte er sich mehr als einmal gefragt, wie das Leben der bedauernswerten Gefangenen wohl aussehen mochte, die an den Rudern saßen. Jetzt wusste er es.

Mit jedem eintönigen Tag, den Lomaxes am Ruder verbrachte, verlor er weiter den Bezug zu Zeit und Raum. Er fragte sich immer öfter, wo er sich überhaupt befand. Gestern erst hatte Lomaxes bemerkt, dass auch Borth den Hinterhalt überlebt hatte und man ihn ebenfalls gefangen genommen hatte. Aber er war schließlich offenbar an seinen Verletzungen gestorben und über Bord geworfen worden. Als man Borths ausgemergelte Leiche an Lomaxes vorbeigeschleift hatte, erklärte einer der Piraten grinsend, dass Lomaxes früher oder später das Schicksal seines Kameraden teilen würde. Sein Tod sei die gerechte Strafe dafür, dass er vor seiner Ergreifung sechs von Melanos Männern getötet und sich wie Lomaxes geweigert habe, Melano zu verraten, was Bethan Sidoro und Ar’shok planten. Falls der Pirat Lomaxes mit seinen Worten ängstigen oder zum Verrat motivieren wollte, war er gescheitert. Borth war für Morwindel ehrenvoll in den Tod gegangen und wie sein Kamerad würde auch Lomaxes bereitwillig dieses Opfer bringen. Für Morwindel, für die Garde und nicht zuletzt für all seine Freunde und Verwandten in Raan. Lomaxes wusste zwar nicht genau, was Marschall Ar’shok vorhatte, doch er konnte sich recht gut vorstellen, was in den kommenden Wochen und Monden geschehen würde. Zunächst würde Marschall Ar’shok mit Hilfe der Piraten eine Armee über das Shisek-Meer schaffen, um den Südpass zu erobern. Erfuhr Melano etwas davon, würde es sicher zu einer Seeschlacht kommen. Einer Schlacht, die Ar’shok gewinnen musste, um Kaylisia zu retten. Auch wenn Ragard und Kataris eine gewaltige Flotte besaßen, so zweifelte Lomaxes nicht an einem Sieg seines Marschalls. Dafür würden die morwindellischen Magier schon sorgen. Wie hatte einer der Matrosen der Chillons Segen es ausgedrückt? Alle Elemente trachteten nach dem Leben eines Seemanns. Wasser, Wind, Erde und auch Feuer vermochten den Untergang eines Schiffes herbeizuführen. Und bei einer Seeschlacht mit Magie gäbe es reichlich Feuer. Eine Seeschlacht würde fast unweigerlich zur Vernichtung aller katarisischen Schiffe führen und damit auch zu Lomaxes’ Tod. Denn er konnte zwar schwimmen, aber es war unmöglich, den Kopf über Wasser zu halten, solange Melanos gesamte verfluchte Galeere an seinen Knöchel gekettet war. Also lag es in seinem Interesse, wenn Melano weiter nur raten konnte, wie die Pläne des Marschalls aussahen.

»Steuerbord Ruderer halt!« Der gebellte Befehl riss Lomaxes aus seinen Gedanken. Es war leicht, sich in der Monotonie des Rhythmus des Trommelns zu verlieren, aber jetzt hob er zusammen mit seinem Leidensgenossen das schwere Ruder aus dem Wasser und wartete auf den Befehl, es vollends einzuziehen. Als nichts geschah, blickte er durch einen Spalt zwischen Ruder und Planken der Schiffswand aufs Meer und sog überrascht den Atem ein. In einiger Entfernung schien der gesamte Ozean in Flammen zu stehen.

War es etwa schon zu einer Schlacht gekommen und Melano kam nur zu spät, um noch einzugreifen? Oder war etwas grundlegend anderes geschehen? Lomaxes konnte seinen Blick nicht vom Inferno auf den Wellen abwenden. Erst als ihm jemand in den Rücken trat, bemerkte er zwei Piraten auf den Planken zwischen den Ruderbänken. »Josa soll sich beeilen. Der Mann ist ja noch angekettet. Wenn dieser besoffene Trottel nicht bald hier auftaucht, hacke ich dem Gefangenen sein Bein ab. Ich habe keine Lust, Fardon warten zu lassen. Sogar eine Seeschlange würde sich zweimal überlegen, den Kapitän in seinem derzeitigen Zustand zu verärgern.«

Farlion. Das war doch der Name von Kapitän Bethans Bruder. Götter!

 

KAPITEL I

Invasion

Seit einer Woche war Verjak nicht mehr nach Altors Portal gesprungen. Derwas hatte ihn deswegen zur Seite gezogen und ihm in seiner direkten Art mitgeteilt, dass er gefälligst aufhören sollte, sich die Schuld an Ka’raks Tod zu geben. Zumindest sei es nicht ratsam, Tajana und jeden anderen in Tajanas Umgebung zu bestrafen, nur weil er um seinen besten Freund trauerte und es vorzog, sich in Selbstmitleid zu suhlen.

Verjak richtete seine blauen Augen auf Derwas und blickte ihn schweigend an. Der ältere Jolpur umklammerte die Schnur seiner Kette aus abgeschnittenen Kieman-Ohren so fest, dass sie zum Reißen gespannt war. Daraufhin stieß Derwas einige ausgesucht unflätige Flüche aus, kratzte sich unter seinem Bart das Kinn, wandte sich kopfschüttelnd ab und ging seiner Wege.

Von dem Hügel, auf dem er sich befand, ließ Verjak seinen Blick über die Ebene schweifen. Noch wirkte alles friedlich. Doch schon sehr bald würden die zwanzigtausend Jolpur, die ihn begleiteten, das ändern. Einige Dörfer lagen inmitten von Wiesen und abgeernteten Feldern. Hier und da konnte er Wäldchen ausmachen, die nichts mit dem bedrohlich wilden, urtümlichen Wald des Raanforsts gemeinsam hatten außer dem Namen. Und weit im Süden konnte Verjak eine größere Stadt ausmachen. Auf den Karten hieß sie Satraun und lag am Oberlauf des Salak. In Satraun war der Salak ein kleiner Fluss, der aus den Be’lis-Bergen kommend durch sanfte Hügel floss. Dass Satraun sich zu einer wohlhabenden Stadt entwickeln konnte, verdankte es seiner Lage im Norden Ragards. Jemand hatte beschlossen, dort eine stärkere Garnison einzurichten, um ein Auge auf die unberechenbaren Magier in Morwindel und Shar zu haben.

Den Kriegern waren Handwerker und Händler gefolgt und jetzt verlief durch Satraun ein gut ausgebauter Handelsweg nach Shar. Doch nun kamen die Jolpur, da es zum Unglück Satrauns die Stadt war, die nicht nur in unmittelbarer Nähe des Raanforsts lag, sondern auch noch der Ausgangspunkt für den gescheiterten Vorstoß nach Raan gewesen war.

Derwas vermutete, dass der größte Teil der Garnison Satrauns zu der Armee gehört hatte, die im östlichen Raanforst zerstört worden war. Deshalb hielt er es auch für sehr unwahrscheinlich, dass Satraun Widerstand leisten würde. Nach der Übernahme der Stadt konnte Verjak dort seinen ersten Stützpunkt in Ragard einrichten.

Verjak spürte den Wind, der durch sein dunkelblondes Haar und den Bart strich. Er wickelte sich fester in den mit Pelz besetzten Umhang und fragte sich, wann dieses Jahr die Schneefälle wohl einsetzen würden. Zumindest war es nicht mehr so unnatürlich warm und trocken wie noch vor zwei Wochen. Im Nachhinein erschien es Verjak, als trauerten sogar die Götter um Ka’rak. Die Regenfälle hatten noch in derselben Nacht eingesetzt, in der Ka’rak von Beniar umgebracht worden war. Seitdem hatten sie nur noch selten aufgehört. Wäre es kälter, dann hätten Schneefälle die Jolpur in den Be’lis-Bergen behindert, doch so waren zwanzigtausend kampferprobte Jolpur im Salak-Tal eingefallen.

»Sprichst du wieder oder versteckst du dich weiter hinter deiner Trauer, um dich vor Entscheidungen zu drücken?« Derwas’ Haare waren vom Regen durchnässt und von seinem ungepflegten, grauen Bart tropfte Wasser auf seinen Sattel.

»Ka’rak ist von einem Unsterblichen getötet worden, Derwas«, erwiderte Verjak müde. »Loredana und Jimas waren sich einig, dass Beniar Kalados nur aus einem einzigen Grund aufgesucht haben kann. Nämlich um Ka’rak zu töten. Er scheint etwas dagegen gehabt zu haben, dass Ka’rak versucht hat, diesen Krieg zu beenden.«

Derwas schüttelte den Kopf. »Narr. Der schnellste Weg, diesem Krieg ein Ende zu bereiten, liegt in einer vollständigen Niederlage Ragards. Sobald Kalatora erkennt, dass keine Aussicht auf einen Sieg besteht, wird die Führung Friedensverhandlungen zustimmen.«

»Und was soll Beniar daran hindern, sich wieder einzumischen?« Hätte Derwas einmal Beniar mit seinen eigenen Augen gesehen, dann würde er bestimmt anders denken. »Außerdem sprechen wir über Kalatora, eine Nation, deren einziges Ziel die Versklavung oder Vernichtung aller Magier ist. Die Kalatoraner würden wahrscheinlich sogar noch nach dem Verlust von Kalados fanatisch weiterkämpfen und uns für jeden Schritt in Blut zahlen lassen.«

»Junge.« Derwas blickte ihn finster an. »Beniar mag ja unsterblich sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass er allmächtig ist. Konzentriere dich besser auf deine Aufgabe und lass’ die Dörfer besetzen. Morgen reiten wir zur Stadt und fordern sie auf, sich kampflos zu ergeben.«

»Und wenn sie sich nicht ergeben?«, fragte Verjak zweifelnd.

»Dann werden sie sehr viele unserer Jolpur-Brüder glücklich machen. Bei Bantums Eroberungszügen hat er den Kriegern immer drei Tage zur Plünderung einer Stadt gelassen, die sich nicht ergeben hat.« Der ältere Jolpur hob warnend eine Hand. »Du wirst dich auch daran halten. Ragard hat die Heimat deines toten Freundes verraten. Sie haben versucht, eine ihrer Armeen durch Ka’raks Land marschieren zu lassen. Denkst du etwa, die Ragarder hätten Mitleid mit den Bauern und Holzfällern in Raan gehabt? Satraun hat morgen die Gelegenheit, kampflos zu kapitulieren und dann wird kein Krieger einem dieser verfluchten Verräter ein Haar krümmen. Falls sie aber kämpfen wollen, dann müssen sie dafür den Preis zahlen. Immerhin vergießen unsere Krieger bei der Eroberung dieser Stadt ihr Blut und haben dafür eine Belohnung verdient, Verjak.«

Verjak schluckte seinen Einwand wieder herunter und nickte stattdessen. Er vermisste Tajana, Jackis und Dana. Aber ein Besuch in Altors Portal hieß auch, Ka’raks Anwesen zu betreten. Und er fühlte sich nicht stark genug für eine weitere Begegnung mit Gart, der aussah, als habe jemand ihn und nicht Ka’rak getötet. Errin zu treffen wäre sogar noch deprimierender. Als Verjak zuletzt in Altors Portal gewesen war, hatte Errin mit niemandem ein Wort gewechselt und es war Maona und Tajana nur selten gelungen, sie zum Essen einer Kleinigkeit zu bewegen. Verjak hatte Gart vorgeschlagen, mit Errin nach Anwardat oder an einen anderen Ort zu springen, da alles in Ka’raks Anwesen sie an Ka’rak erinnern musste. Doch davon hatte weder Gart noch Errin etwas wissen wollen. Also hielt Verjak sich von Altors Portal fern, obwohl er liebend gerne seine Familie besucht hätte.

Vielleicht stimmte Tajana nach der Eroberung von Satraun zu, mit den Kindern dorthin zu kommen. Doch wie Verjak seine Frau kannte, würde sie sich vor ihn stellen, die Hände in ihre Hüfte stemmen und es irgendwie schaffen, auf ihn hinabzusehen, obwohl sie mehr als einen halben Schritt kleiner als er war. Tajana würde ihn verletzt anblicken, ihren Kopf schütteln und ihm vorwerfen, egoistisch zu sein. Nein, Tajana würde so lange in Altors Portal bleiben, bis Errin wieder bereit war, am Leben teilzuhaben.

Während der Nacht kurz nach der Besetzung der letzten Dörfer in der Nähe von Satraun war aus den starken Regenfällen dichtes Schneetreiben geworden. Verjak konnte nicht weiter als fünfzig Schritt sehen. Die gesamte Welt schien nur noch aus dicken, weißen Flocken zu bestehen.

»Die ersten Männer wünschen sich jetzt, sie wären bei ihren Frauen geblieben.« Irgendwie war es Derwas gelungen, Verjak zu finden. »Ich bin sicher, dass einige von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben Schneeflocken sehen.«

Daran hatte Verjak nicht gedacht. »Zum ersten Mal? Gibt es keinen Schnee unten im Süden?«

»Nein«, antwortete Derwas kopfschüttelnd. »Nur in den Bergen. Und wenn man jung genug ist, hat man als Krieger Besseres zu tun als sich im Winter im eisigen Gebirge herumzutreiben.«

»Aber die Schneefälle ändern doch nichts an den Plänen, oder?« Verjak wäre nicht unglücklich gewesen, hätte sich die Belagerung Satrauns durch den Wetterumschwung verzögert.

»Götter, nein! Es macht keinen Unterschied, in welcher Form das Wasser vom Himmel kommt. Flüssig oder fest. Die Krieger werden sich daran gewöhnen. Wir sind Jolpur und keine weichen, verwöhnten Nordländer.« Derwas deutete nach vorne. »Wenn man jetzt, am helllichten Tag, kaum die Hand vor Augen sieht, wird es ein Kinderspiel, Satraun nachts anzugreifen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass ich auch viel schlechter höre.«

Verjak nickte. »Das stimmt. Der Schnee dämpft alle Geräusche und der stürmische Wind übertönt ohnehin fast alles.«

»Ausgezeichnet. Die Krieger haben jetzt alle umliegenden Orte besetzt. Tanodus ist zwar nach Altors Portal gesprungen, aber vielleicht sollten wir Satraun jetzt die Möglichkeit zur Kapitulation geben. Tanodus wird dir niemals vergeben, wenn Satraun bei seiner Rückkehr in unserer Hand ist. Wenn es so weitergeht, könnte er noch auf die Idee kommen, jeden Abend nach Raan zu springen, um die Nacht mit Maona zu verbringen.«

Solange Gart und Errin ihre Trauer nicht überwunden hatten, verspürte Verjak keine Lust, dem Beispiel seines Schwiegervaters zu folgen. Aber Derwas hatte recht. Bei diesem Wetter wäre Verjak nicht unglücklich, die Nacht in einem Gasthaus in Satraun zu verbringen. Falls Satraun nicht kampflos aufgab, würde Derwas sicherlich darauf bestehen, während der Belagerung die Jolpur-Zelte vor der Stadt aufzuschlagen. »Ich habe zwar keine Ahnung, wo es nach Satraun geht, doch es ist wohl wirklich an der Zeit, zur Stadt zu reiten und mit den Verantwortlichen zu sprechen.«

Derwas deutete in eine Richtung, in der das Schneetreiben ebenso dicht war wie in allen anderen und ritt los. Verjak blieb keine Wahl. Er folgte dem älteren Jolpur in der Hoffnung, Derwas wusste wirklich, wo der Weg lag. Denn irgendwo in der Nähe musste sich das Bett des Salak befinden und auf ein erfrischendes Bad im eisigen Fluss konnte Verjak verzichten.

»Wir nähern uns dem Tor und sind gleich da«, erklärte Derwas triumphierend. Für Verjak war Satraun nur ein etwas dunklerer Schatten in den wirbelnden Schneeflocken vor ihnen. Es war ihm ein Rätsel, wie Derwas den Weg zur Stadt gefunden hatte – unter der Voraussetzung, dass vor ihm tatsächlich Satraun und nicht nur irgendein steiler Abhang lag. »Jetzt wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt, eine dieser Schutzsphären zu beschwören. Bei Verhandlungen wie diesen kommt es nicht selten vor, dass Dummheit und Stolz über die Vernunft siegen und es zu Blutvergießen kommt.«

Verjak beschwor eine Schutzsphäre und kurz bevor die Sphäre um ihn und sein Pferd erschien, erinnerte er sich daran, dass auch dies eine der Beschwörungen war, die sie Ka’raks Genialität verdankten.

Derwas lachte. »Zum Glück haben wir Rückenwind.«

Irritiert drehte Verjak sich um und erkannte, dass die Schutzsphäre nicht nur Magie und Waffen blockierte, sondern auch Schneeflocken. Schon jetzt war die gesamte Rückseite der Schutzsphäre eine undurchdringliche weiße Wand. »Mir ist es lieber, die Flocken lagern sich auf einer Schutzsphäre ab als irgendwo in meinem Umhang, wo sie nur auftauen und mich durchnässen. Ich bin hier im Norden aufgewachsen. Die Zeiten, als Schnee für mich etwas Neues und Erstaunliches war, sind lange vorbei. Wie jeder andere auch sitze ich gerne an einem Kamin mit einem heißen Tee oder noch besser einem heißen Wein in der Hand und betrachte die wirbelnden Flocken vor dem Fenster. Doch ich weiß auch, wie viele Menschen Winter für Winter ihr Leben verlieren, weil ihr Wagen im Schnee stecken geblieben ist und sie im Schlaf erfroren sind.«

»Halt! Kommt nicht näher! Die Tore sind geschlossen!« Offenbar hatte man in Satraun die vorrückenden Jolpur entdeckt und Mauern und Tore besetzt.

Verjak räusperte sich. »Ruft jemanden her, der die Befugnis zu Verhandlungen hat. Ich bin Verjak Galador vom Schlangenclan der Jolpur und ich habe genug Krieger bei mir, um Satraun dem Erdboden gleich zu machen.«

»Die Anwesenheit eurer Armee von Plünderern ist uns schon seit Tagen bekannt. Ich bin der Bürgermeister von Satraun, Zarin Raduk. Seid versichert, dass Verstärkung unterwegs ist. Ihr solltet also schleunigst dorthin zurückkehren, wo ihr hergekommen seid. Wir sind keine Kinder, die sich vor einer Handvoll Reitern fürchten.«

»Dann wisst ihr sicher, warum wir hier sind.« Dieser Bürgermeister schien den Ernst der Lage nicht zu erkennen. »Euer Anführer, der Handelsherr von Resa, hat seine Verbündeten verraten. Doch die Armeen, die Morwindel angegriffen haben, sind gescheitert. Die Männer, die ihr als Plünderer bezeichnet, haben eine kalatoranische und eine ragardische Armee zerschlagen, die versucht haben, im Fürstentum von Raan einzudringen. Die Verstärkungen, auf die ihr zählt, werden niemals rechtzeitig hier eintreffen. Durch den Verrat des Handelsherrn wird meine Armee wahrscheinlich nur die erste von vielen sein, die in diesem Winter durch Ragard ziehen. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Befehlshabern lasse ich euch die Wahl. Entschließt ihr euch, kampflos zu kapitulieren und die Tore zu öffnen, darf jeder unbehelligt aus Satraun abziehen. Gleichgültig, ob bewaffnet oder nicht. Jeder Bewohner hat die Wahl, die Stadt zu verlassen oder auch zu bleiben. Niemandem wird ein Haar gekrümmt. Kein Mensch muss sein Leben verlieren.« Verjak bekam eine Gänsehaut. Seine Worte unterschieden sich von denen Braodoths, doch im Prinzip tat er dasselbe wie der Anführer des Drachenclans zweieinhalb Jahre zuvor in Anwardat. Nur stand Verjak dieses Mal nicht auf der Mauer, sondern trug das Ultimatum vor. »Wenn ihr aber kämpft, werdet ihr und eure Stadt untergehen. Bei den Jolpur lässt man den Kriegern traditionsgemäß drei Tage Zeit, eine erstürmte Stadt zu plündern. Für die Bewohner der geplünderten Stadt sind diese drei Tage ein Vorgeschmack auf Odoths Reich. Nichts, was in dieser Zeit geschieht, wird geahndet. An eurer Stelle würde ich die Gelegenheit nutzen, und kampflos aufgeben. Solltet ihr Zeit zum Nachdenken oder für Beratungen benötigen, gebe ich euch bis zum Morgen Zeit. Dann kommen wir zurück und erwarten eure Antwort.« Verjak hoffte, dieser Raduk war vernünftig. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Braodoths Krieger ihre Gefangenen in Anwardat misshandelt hatten. Nicht einmal ragardische Verräter sollten dasselbe erleiden.

»Ihr könnt eure Antwort sofort haben! Wir werden kämpfen!« Ein Feuerball, der von der Mauer aus auf Verjak zu waberte, unterstrich Raduks Aussage. Obwohl Verjak Ka’raks Schutzsphäre vertraute, hielt er den Atem an, als der Feuerball auf die Sphäre prallte, nach oben abgelenkt wurde und schließlich in den wirbelnden Schneeflocken verschwand. Offenbar war jemand auf der Mauer der Ansicht, ein oder zwei tote Unterhändler würden die Jolpur schockieren. Denn nachdem der Feuerball wirkungslos geblieben war, wurde seine Schutzsphäre von Dutzenden Pfeilen getroffen. Der Magier, der für den Feuerball verantwortlich war, bereute wohl schon jetzt seinen Angriff, da ihm Ka’raks Schutzsphäre wie göttliche Magie erscheinen musste.

»Wir verschwenden nur unsere Zeit!«, spuckte Derwas angewidert aus. »Falls Tanodus einverstanden ist, greifen wir noch in dieser Nacht an. Soll Odoth diese verfluchten Narren holen.«

»Ihr tut mir wirklich leid, Raduk«, rief Verjak dem Bürgermeister zu. »Den Preis für euren Starrsinn werdet zu meinem Bedauern nicht ihr, sondern die unschuldigen Bewohner eurer Stadt zahlen. Ihr wollt kämpfen. So soll es also sein.« Er nickte Derwas zu und ritt in den kaum noch sichtbaren Spuren zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ja«, wandte er sich nach einer Weile an Derwas, »wir sollten in dieser Nacht angreifen.«

»Du darfst dir nicht die Schuld dafür geben, Verjak. Der Bürgermeister ist dumm und stolz. Wenn sich erst herumgesprochen hat, wie es Satraun ergangen ist, wird vielleicht nicht der nächste, aber sicher der übernächste Bürgermeister, dem wir das Ultimatum stellen, mehr Angst vor dem Aufstand seiner Mitbürger haben als vor diesem verräterischen Handelsherrn.« Derwas hatte gut reden. Im Gegensatz zu Verjak hatte es bei dem Jolpur wahrscheinlich niemanden wie Gart gegeben, der viel Zeit darauf verwendet hatte, ihm Verständnis für die Situation der einfachen Menschen einzutrichtern.

»Tajana lässt dich grüßen, Verjak.« Tanodus betrat gebückt zusammen mit einem eisigen Windstoß das Zelt und schüttelte den Schnee von seinen schwarzen Umhang. »Musstest du das Muster unbedingt in einem Zelt am anderen Ende des Lagers platzieren? Das Wetter ist fürchterlich.«

»Wie geht es Tajana und den Kindern?« Wenn es nach Tanodus ging, sollte Verjak das Muster am besten in sein eigenes Zelt stellen.

»Du kennst Tajana. In Altors Portal ist das Wetter noch schlechter als hier. Dort liegt fast ein Schritt Schnee und es sind schon einige Dächer eingebrochen. Tajana würde gerne an die frische Luft gehen, doch solange der Sturm wütet, lässt Maona sie nicht aus dem Haus. Dana und Jackis haben immer noch zu unterschiedlichen Zeiten Hunger und halten damit Tajana wach.« Tanodus warf den Kopf zurück und lachte. Er richtete seine schwarzen Augen auf Verjak. »Du hast ein Problem, Verjak. Tajana gibt dir die Schuld.«

Verjak seufzte. »Das ist nicht neu. Sie tut gerade so, als hätte ich mich mit den Kleinen verschworen, ihr den Schlaf zu rauben.« Wenigstens war seine Familie in Sicherheit. Ganz anders als die Menschen in Satraun. »Ich habe dem Bürgermeister von Satraun das Ultimatum gestellt.«

»Er hat natürlich abgelehnt und versucht, dich umzubringen?«

Verjak nickte. »Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich ihm den Ernst der Lage deutlicher vor Augen führen können.«, gestand Verjak kleinlaut.

»Verjak! Als Branis vor zwanzig Jahren nach Süden vorgestoßen ist, habe ich das alles schon einmal erlebt. Sogar Dörfer, die von einem kaum vier Schritt hohen Palisadenwall umgeben waren, haben anfangs trotzig gegen eine erdrückende Übermacht gekämpft. Der Preis für Widerstand muss sich erst herumsprechen.«

Der Eingang zu Verjaks Zelt wurde wieder geöffnet. Abermals schnitt ihm der eisige Wind bis ins Mark. Dieses Mal trat der grinsende Derwas ein. »Gut, dass du da bist, Tanodus. Verjak ist der Meinung, wir sollten Satraun schon diese Nacht überfallen. Bei diesem Wetter rechnet niemand mit einem ernsthaften Angriff.«

Tanodus zog eine Augenbraue hoch. »Ich glaube, das wird der erste Überfall, bei dem die Krieger sich um einen Platz am Kamin statt um hübsche Frauen streiten werden.« Der Anführer des Schlangenclans überlegte einen Moment. »Also gut. Erobern wir Satraun.«

Die Jolpur griffen kurz vor Sonnenaufgang an. Der größte Teil der Krieger wartete bei Verjak und Tanodus, doch falls der Angriff wie geplant vorankam, müssten einige hundert Krieger gerade dabei sein, mit Hilfe einiger Leitern an zwei Abschnitten auf die Mauern zu gelangen. Er nickte seinem Schwiegervater zu. »Sie hatten genug Zeit. Wir greifen an.«

»Gut. Aber du solltest den Angriff anführen«, wies Tanodus ihn zurecht.

»Nein.« Verjak schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich beteilige mich nur am Angriff auf das Tor und beseitige die Schutzbanne. Die Stadt betrete ich erst, wenn wieder Ordnung einkehrt. Wenn ich sehe, wie einer der Krieger Wehrlose tötet oder eine Frau schändet, könnte ich ihm nie wieder in die Augen sehen. Die Männer sollen ihre drei Tage des Wahnsinns haben. Allerdings will ich nicht sehen, wer von ihnen für welche Untaten verantwortlich ist.«

Tanodus nickte nachdenklich. »Gut. Das kann ich verstehen und die Krieger werden es respektieren. Bist du bereit? Die Tore kannst du unmöglich verfehlen. Diese Narren unterhalten sogar ein Wachfeuer vor jedem Tor. Auf den Mauern scheint es dagegen so gut wie keine Wachen zu geben.«

»Sie sind keine Narren, Tanodus. Sie erwarten nur einen berittenen Angriff. Da Pferde weder fliegen noch auf Leitern klettern können, rechnen sie mit einem Angriff auf eines der Tore. Und genau das tun wir jetzt.« Verjak entfesselte ein Blitzbündel auf das Tor, das er tatsächlich deutlich jenseits des Wachfeuers ausmachen konnte. Befriedigt sah er, wie einige der Blitze ins Holz des massiven Tors einschlugen. Alle Schildbanne waren beseitigt. Bevor ein aufmerksamer Magier einen neuen Schutzzauber wirken konnte, beschwor Verjak mehrere Luftklingen, die auf das Tor zu jagten. Er hielt den Atem an. Die Klingen sollten alle Riegel zerstören. Eine nach der anderen schlug im Tor ein und schon nach dem vierten Treffer öffnete sich ein Spalt, durch den Fackelschein drang. Nun beschwor er einen Flammenstrahl, den er auf den Spalt richtete.

»Götter. Ich bete darum, niemals auf der anderen Seite eines dieser Flammenstrahlen zu stehen.«, gestand Tanodus staunend. »Eine Schande, dass Ka’rak keine neuen Überraschungen mehr erschaffen kann.«

Verjak hörte seinem Schwiegervater nur mit einem Ohr zu. Der Flammenstrahl drückte beide Flügel des Tors auf und offenbarte, dass der Weg ins Innere Satrauns frei war. »Die beiden anderen Tore sollten den Kriegern genausowenig widerstehen. Satraun gehört uns.« Die Krieger um ihn herum zogen ihre Waffen und ritten bedrohlich langsam auf das brennende Tor zu. Erst einige Schritte vor dem Torhaus stießen sie ihren Schlachtruf aus, der immer noch oft genug in Verjaks Albträumen von Braodoths Überfall auf Anwardat zu hören war.

Die Stadt war schnell gefallen. Noch während die ersten Verstärkungen zu den Toren geströmt waren, fielen die Jolpur, die über die Mauern geklettert waren, ihnen in den Rücken. Fast alle Krieger befanden sich in Satraun und beteiligten sich an den Plünderungen.

Tanodus kam müde aber zufrieden auf Verjak zu. »Wir hatten kaum Verluste. Nachdem ich die Truppen Ar’shoks an der Zitadelle der Götter erlebt habe, hätte ich einen harten Kampf erwartet.«

»Unsere Gegner waren wahrscheinlich einige Angehörige der regulären Garnison, etliche Söldner und die örtliche Miliz. Mit solchen Männern kann man nicht erwarten, einen Angriff von Jolpur abzuwehren. Deshalb hat mich der Starrsinn des Bürgermeisters ja so überrascht. Was treibt eigentlich Derwas?«

»Er hat eine der Gruppen angeführt, die mit Leitern die Mauer angegriffen haben. Soweit ich gehört habe, sucht er den Bürgermeister dieser Stadt. Du hast einen schlechten Einfluss auf ihn, Verjak. Ich glaube, er nimmt es Raduk übel, dass du wegen der Plünderung Satrauns Albträume haben wirst.«

Verjak musste grinsen. »Raduks Ohren werden einen Ehrenplatz an Derwas’ Kette erhalten, oder?«

»Möglich. Und Derwas wird sicherstellen, dass Raduk überlebt. Du wirst vielleicht eine Weile Albträume haben, aber der Bürgermeister bestimmt für den Rest seines Lebens.« Verjak fröstelte. Und dieses Mal war es nicht wegen der Kälte!

Anders als Braodoths Krieger hatten Verjaks Jolpur darauf verzichtet, weite Teile von Satraun abzubrennen. Die drei Tage, in denen die Jolpur die Stadt plündern durften, waren vorüber. Verjak hatte erwartet, überall in der Stadt auf Tod und Zerstörung zu stoßen. Doch er musste zugeben, dass er zwar noch keine einzige intakte Tür gesehen hatte, doch nur in der Nähe des Tores war er auf einige Tote gestoßen. Wie es in den geplünderten Gebäuden aussah, mochten die Götter wissen. Jedenfalls zog Verjak es vor, nicht nachzusehen. Überall in den Straßen sah Verjak kleine Gruppen von Jolpur, die sich vorsichtig und wachsam durch die Stadt bewegten. »Tanodus. Was tun all diese Gruppen von Kriegern?«

Verjaks Schwiegervater zuckte die Achseln. »Was wohl? Sie sorgen für Ordnung. Manchmal verlieren einige Männer in den drei Tagen der Plünderung ihren Verstand. Sie glauben dann, ungestraft auch weiterhin alle Regeln ignorieren zu können. Um diese Auswüchse einzuschränken, patrouillieren aufmerksame Krieger nach der Plünderung die Straßen.«

Obwohl Verjak jetzt schon einige Jahre unter den Jolpur lebte, wurde ihm stets aufs Neue vor Augen geführt, wie wenig er über das Volk seiner Frau wusste. Wenn Tanodus oder andere Anführer der Jolpur ihren Kriegern drei Tage lang gestatteten, sich in einer Stadt wie die Wilden aufzuführen, taten sie das nicht, weil sie unzivilisierte Barbaren waren. Sie erlaubten es auch nicht, damit ihre Krieger alle möglichen Perversionen ausleben konnten. Sondern sie wollten mit der Plünderung Angst und Schrecken erzeugen. Das Leiden der Einwohner von Satraun führte langfristig wahrscheinlich wirklich dazu, Menschenleben zu retten. Jede ragardische Stadt, die in Zukunft kampflos aufgab, verhinderte Blutvergießen. »Wie sollen wir weiter vorgehen, Tanodus? Richten wir uns hier in Satraun ein oder rücken wir so schnell wie möglich nach Süden vor?«

»Du hast das Kommando, Verjak. Das ist dein Feldzug, den du im Namen von Ka’rak führst. Derwas und ich beraten dich nur.« An Tanodus Grinsen erkannte Verjak, wie ernst er seine Aussage meinte. »Allerdings würde ich dir dazu raten, eine Woche abzuwarten. Schließlich sollen so viele Menschen wie möglich aus Satraun fliehen und berichten, wie das Schicksal von Städten aussieht, die Widerstand leisten.«

Verjak führte sich die Geographie Ragards vor Augen. Flussabwärts, am Zusammenfluss von Gradut und Salak, lag Trissita. Verglichen mit Trissita war Satraun ein winziges, unbedeutendes Dorf. Die große Stadt wachte über den bedeutendsten Zugang zum Sternenpass, dem sie ihren Reichtum verdankte. Und dementsprechend umfangreich waren auch Trissitas Befestigungsanlagen. Doch bevor sie nach Trissita gelangten, lagen noch zwei oder drei andere größere Städte am Ufer des Salak. Dort würde sich zeigen, ob die Bürgermeister vernünftiger waren als Raduk.

✽   ★   ✽

Altors Portal war unter einem Schritt Schnee verschwunden. Die wenigen Menschen, die sich in der kleinen Stadt aufhielten, waren vernünftig genug, in ihren Häusern zu bleiben. Gart wäre liebend gerne ihrem Beispiel gefolgt, doch ein Bote hatte ihm mitgeteilt, seine Anwesenheit am Tor sei dringend erforderlich. Also duckte sich Gart gegen den schneidenden Wind, wickelte sich fester in seinen Umhang und folgte der Wache, deren Fackel er im dichten Schneetreiben kaum sehen konnte.

Er sollte eigentlich dankbar sein, zur Abwechslung einmal aus Ka’raks Herrenhaus herauszukommen. Aber es war einfach zu kalt. Und bei all den dunklen Fenstern, an denen er vorbeikam, fragte er sich, wie es den Bewohnern von Altors Portal wohl gerade ergehen mochte. Nach Verjaks Sieg über die vorrückenden Armeen im Raanforst hatte er erwartet, die Bewohner würden schnell wieder zurückkehren. Vor allem, da der Winter vor der Tür stand. Vielleicht hatte die unnatürliche Hitze sie in falscher Sicherheit gewiegt. Und jetzt, nach den ergiebigen Schneefällen, mussten sie an dem Ort bleiben, wo auch immer sie sich gerade aufhielten.

Doch seine Sorgen, die er sich um die geflohenen Einwohner von Altors Portal machte, waren nichts verglichen mit seiner Sorge um Errin. Ihre Trauer fraß sie auf. Sie aß nichts, trank so gut wie nichts, sprach kein Wort und starrte im besten Fall teilnahmslos aus dem Fenster. Und das auch nur, wenn sie es einmal schaffte, aus ihrem Bett aufzustehen. Seine Enkeltochter starb, doch Gart konnte nichts dagegen tun. Ka’rak war tot. Daran bestand kein Zweifel. Er hätte sich gerne mit eigenen Augen in Kalados davon überzeugt, um sicherzugehen, dass Ka’rak nicht einfach in den Fluss gefallen war und sich fragte, wohin Errin verschwunden war. Aber Loredana und Jimas hatten seine Hoffnungen schnell zerschlagen. Beniar musste in Ka’rak eine Gefahr für seine Pläne gesehen haben. Deshalb hatte er sich die Mühe gemacht, Ka’rak persönlich zu töten. Und zwar mit einer Magie, die eigentlich gar nicht möglich sein sollte. Jedenfalls wurde Jimas niemals müde, das zu betonen. Angeblich hatte nicht nur Beniar in der verhängnisvollen Nacht Magie außerhalb der Regeln gewirkt, sondern auch Errin. Darin waren Jimas, Loredana und Philot sich einig. Doch obwohl Jimas Errin jedes Mal fragte, was sie getan hatte, wenn er in Altors Portal auftauchte, blieb Errin stumm und Jimas sprang frustriert zurück zu Loredana und Philot.

Gart runzelte die Stirn. Es konnte doch unmöglich so weit bis zum Portal sein. Als er gerade seinen Führer fragen wollte, wann sie endlich ihr Ziel erreichten, erkannte er vor sich die Schemen der Palisaden, die Altors Portal umgaben. Entweder hörte er nicht mehr gut oder der Führer hatte Tor gesagt und Gart Portal verstanden. Jedenfalls näherten sie sich einem der Tore von Altors Portal.

Eine Gruppe frierender Wachen stand etwa zwei Dutzend Bewaffneten gegenüber, die eine morwindellische Fahne mit sich führten. Offenbar wurde dieses Tor von Angehörigen der fürstlichen Miliz bewacht. Andernfalls hätte man die Besucher bestimmt passieren lassen. »Was geht hier vor?« Es war bitterkalt und noch nie hatte jemand Gart nachgesagt, er sei besonders geduldig.

Eine der vermummten Gestalten trat hervor. »Was hier vorgeht? Diese Männer erdreisten sich, eine Abgesandte des Hohen Rates von Anwardat aufzuhalten.«, antwortete eine Frau, während sie ihre Kapuze herunterzog. Sobald Gart ihre verkniffenen, braunen Augen sah, wusste er, dass sie Ärger bedeutete.

Gart deutete eine leichte Verbeugung an. »Bedenkt man, was mit Fürst Ka’rak geschehen ist, als er im Auftrag des Hohen Rates sein Leben riskiert hat, solltet ihr nicht überrascht sein. Der Fürst war sehr beliebt. Wer seid ihr und was wollt ihr?« Nein. Gart war wirklich nicht geduldig. Außerdem konnte er sich in die Angehörigen von Ka’raks Miliz hineinversetzen, die ebenfalls um Ka’rak trauerten.

»Odella von Garvis.« Die Frau warf Gart einen wütenden Blick zu. »Ich verlange, unverzüglich mit Errin Verinas zu sprechen.«

Errin Verinas. Nicht Fürstin Errin von Raan oder Errin Altor, sondern nur Errin Verinas. Gart begann zu ahnen, was hier gespielt wurde und er wünschte sich, die Wachen hätten etwas mehr Initiative gezeigt und Odella mitsamt ihrer Eskorte beseitigt und im Wald verscharrt. Raan war nicht ganz so wertlos, wie der Hohe Rat gedacht hatte. Und nun streckten die Hohen Räte ihre gierigen Finger nach dem einzigen aus, das Errin noch an Ka’rak erinnerte. Doch jetzt war es zu spät. Er musste diese Abgesandte des ehrenwerten Hohen Rates zu Errin bringen. »Folgt mir, Odella. Ich bringe euch zu Fürstin Errin. Aber sie wird euch heute nicht mehr empfangen können.« Wieder bedachte Odella ihn mit einem zornigen Blick. Bevor er diese Frau zu Errin vorließ, musste Gart sich informieren. Er dankte den Göttern dafür, dass er innerhalb eines Augenblicks nach Anwardat springen konnte. Wenn Kordinian ihm nicht helfen konnte, dann gab es in Anwardat mehr als genug Alternativen. Eine Handvoll Goldstücke lockerte jede Zunge. Dass der Hohe Rat ausgerechnet eine weibliche Abgesandte zu Errin schickte, verhieß jedenfalls nichts Gutes.

In Ka’raks Herrenhaus hatte Gart Odella Lisp übergeben, der sich um Quartiere für die Abgesandte und Ihre Begleiter kümmern sollte. Er zog es vor, lieber nicht darüber nachzudenken, wie Odella mit Verjaks Frau Tajana und ihrer Mutter Maona auskommen würde. Mit diesem Problem wollte er sich aber erst dann beschäftigen, wenn es akut wurde. Er blickte sich noch einmal in Ka’raks Bibliothek um, stellte sicher, dass der altertümliche Stuhl sich noch im Raum befand und sprang nach Anwardat.

In Marschall Ar’shoks Arbeitszimmer prasselte sogar ein Feuer im Kamin. Doch Gart wollte sich nicht lange im behaglich warmen Arbeitszimmer des Marschalls aufhalten. Er öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus. Die dösende Wache vor den Räumlichkeiten des Marschalls nahm schlagartig Haltung an und das Blut wich vor Schreck aus ihrem Gesicht. Erst als sie Gart erkannte, beruhigte der Mann sich wieder. Gart nickte dem Gardisten zu und nahm den schnellsten Weg zum Hof der Zitadelle. Durch die Fenster konnte er erkennen, dass in Anwardat dasselbe Schneetreiben herrschte, das auch Altors Portal fest im Griff hielt. Sobald er bei Kordinian war, musste er dem genialen Heiler die Magie des Springens beibringen. Oder sich wenigstens ein Objekt oder ein Muster in Kordinians Haus einprägen. Bei diesem Wetter den Morwind in der provisorischen Fähre zu überqueren versprach kein Vergnügen werden.

Gart hätte es vorgezogen, einmal nicht recht zu behalten. Die Überfahrt über den Morwind war ein Albtraum gewesen. Der Fährmann hatte sich zunächst geweigert, bei diesem scheußlichen Wetter abzulegen. Erst, nachdem der alte Mann Gart erkannt hatte, gab er widerstrebend nach und scheuchte die Ruderer an ihre Plätze. Während der Überfahrt wäre die Fähre um ein Haar gekentert und Garts Stiefel waren so durchnässt, dass seine Füße sich langsam in Eisklumpen verwandelten. Glücklicherweise war es nicht mehr weit bis zu Kordinians Haus. Er konnte schon die Laterne im Eingang erkennen.

Gerade als er die Hand nach dem Türklopfer ausstreckte, öffnete sich die Tür und Kordinian stand vor ihm. »Bei allen Göttern! Was tust du hier, Gart?«

»Ich brauche Antworten, Kordinian.«

Kordinian nickte. »Der Rat will Raan zur Domäne des Rates machen und das Fürstentum unter den Nagel reißen.«

»Wer ist dafür verantwortlich? Eine gewisse Odella von Garvis ist vor kurzem in Altors Portal aufgetaucht und will unbedingt mit Errin sprechen.«

»Odella von Garvis? Ihr Mann ist letztes Jahr gestorben. Er war Kommandant eines Schiffes der Flotte und kam ums Leben, als er versucht hat, das Feuer zu löschen.«

»Ja. Daran erinnere ich mich. Ich war in Mormund, als jemand die halbe Flotte zerstört hat. Zunächst habe ich Z’tanis Unfähigkeit dafür verantwortlich gemacht, doch je länger ich darüber nachdenke, umso wahrscheinlicher wird es, dass Ragard sich die morwindellische Flotte vom Hals schaffen wollte. Wenn diese Odella aber ihren Mann verloren hat, sollte sie eigentlich Verständnis für Errin haben, oder?«

»Es gibt Gerüchte, Gart.« Erst jetzt schien Kordinian zu bemerken, dass er mit seinem Gast vor der Haustür im dichten Schneetreiben stand. »Aber komm erst rein. Du siehst aus, als seist du halb erfroren.«

»Ich danke dir, mein Freund.« Gart schüttelte sich, um wenigstens einen Teil des Schnees loszuwerden, der ihn von Kopf bis Fuß bedeckte. Aber es war hoffnungslos. Kordinians Frau würde nicht glücklich sein, wenn sie die Pfützen unter Garts Umhang sehen würde, doch daran ließ sich jetzt nichts ändern.

Auch in Kordinians Arbeitszimmer prasselte ein wärmendes Feuer im Kamin, vor das Gart sich stellte und seine Hände rieb. Seine Füße fühlten sich immer noch so an, als würden sie langsam zu Eisklumpen werden. »Also was stimmt nicht mit dieser Odella?«

Kordinian schenkte zwei Tassen Tee ein und reicht eine davon Gart. »Odella hat ungewöhnlich viel Zeit in der Nähe von Nandon bas Garvis verbracht und die beiden soll mehr verbinden als Freundschaft.«

»Also steckt Nandon dahinter.«

»Nein. Raan hat Begehrlichkeiten geweckt. Außer Lukars und Palan leckt sich jeder einzelne Hohe Rat nach dem Gebiet die Finger. Sie haben Gerüchte darüber gehört, dass es in den Be’lis Bergen sogar Gold geben soll. Seitdem haben sie wahrscheinlich dafür gebetet, dass Ka’rak nicht zurückkehrt. Und wie man hört, soll Odella jetzt überprüfen, ob Errin schwanger ist oder nicht.«

Am liebsten hätte Gart die dampfende Teetasse in den Kamin geworfen. Aber das wäre unhöflich gewesen. »Soweit ich weiß, ist Errin nicht schwanger. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass sie Ka’raks Frau war und damit die rechtmäßige Fürstin von Raan.«

»Wie geht es ihr eigentlich, Gart? Sie ist zwar noch jung, aber Ka’raks Tod muss sie hart getroffen haben. Wenn sie aber etwas von dir hat, ist sie zäh genug, um über die traumatische Erfahrung hinwegzukommen.«

»Es ist nicht so einfach.«, erklärte Gart kopfschüttelnd. »Anfangs hatte ich meine Zweifel an der Verbindung und geglaubt, Errin hätte Ka’rak vielleicht nur ausgewählt, um mich zu verärgern, weil ich nicht glücklich über sie war. Doch die beiden haben sich aufrichtig geliebt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass die Trauer Errin langsam umbringt. Sie isst so gut wie nichts, trinkt nur ab und zu etwas und ist kaum ansprechbar.«

»Ich würde sie mir ja gerne ansehen, doch bei diesem Wetter nach Altors Portal zu reisen, wäre mein Tod.« Kordinian schien durch Gart hindurch zu blicken. Plötzlich wurden seine Augen groß. »Nein! Odella ist erst vor einer Woche abgereist. Sie könnte sich glücklich schätzen, überhaupt schon in Altors Portal angekommen zu sein. Wie bei allen Göttern ist es möglich, dass du jetzt schon hier bist?«

»Springen!« Gart musste fast lachen. So riesig wurden Kordinians Augen vor Erstaunen. »Loredana und Jimas waren so nett, uns die Magie beizubringen.«

»Die Hohen Räte würden morden, diese Fähigkeit auch zu erlernen«, stellte Kordinian fest. »Und nicht nur die Hohen Räte. Wahrscheinlich jeder einzelne Magier.«

»Begleite mich nach Altors Portal und ich bringe dir die Magie bei.« Kordinian blickte Gart zweifelnd an. »Im Gegensatz zu den Mitgliedern des Hohen Rates wirst du in der Lage sein, die Magie zu meistern, Kordinian. Die Beschwörung gehört zur lebendigen Magie. Wie du weißt, schränkt das den Kreis der Magier, die sie wirken können, erheblich ein.«

»Ich sage meiner Frau Bescheid. Dann kann es losgehen.« Kordinians Augen leuchteten vor Vorfreude, als er zur Tür hinaus stürmte.

»Hast du den ungläubigen Blick in den Augen meiner Frau gesehen?«

Gart schüttelte den Kopf. »Sie macht sich Sorgen, dass du verrückt geworden bist, Kordinian. Das würdest du auch denken, wenn jemand zu dir kommt und erklärt, schnell eine Patientin in Altors Portal zu besuchen, aber wieder zum Abendessen zurück sein wirst.«

»Ja«, gestand Kordinian nachdenklich ein, »da hast du wohl recht.«

»Übrigens ist das Springen keine sehr angenehm Erfahrung, Gart«, bemerkte Kordinian, während er sich in Ka’raks Bibliothek in Altors Portal umsah.

»Man gewöhnt sich daran. Beim zweiten oder dritten Mal wird es etwas angenehmer. Und es ist auch kein Wunder. Immerhin basiert die Beschwörung darauf, dass man für einen Moment an zwei Orten gleichzeitig existiert. Es gibt wohl keine Möglichkeit, ohne Schmerzen zerrissen zu werden.«

»Unglaublich! Wir haben eine Entfernung, für die man sonst mehrere Wochen reisen muss, innerhalb eines Augenblicks überbrückt.« Kordinian war zu Recht erstaunt. Immerhin basierte die Magie des Springens auf der Portalmagie.

»Laut Jimas sollte es sogar möglich sein, mithilfe eines Musters ein stabiles Portal von jedem beliebigen Ort zu jedem anderen zu öffnen. Aber er ist der Ansicht, es sei besser, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Er ist viel zu gefährlich.«

Kordinian nickte. »Das kann ich nachvollziehen, Gart. Es wäre fatal, wenn an jedem Ort jederzeit eine Armee auftauchen könnte.«

»Wie ernst ist Errins Zustand, Gart?« Kordinian versuchte, die Titel einiger Bücher in Ka’raks bescheidener Bibliothek zu entziffern.

»Eigentlich ist sie kerngesund. Wenigstens körperlich. In der lebendigen Magie gibt es ja keinen Unterschied zwischen Kampf- und Heilmagie. Und ich kann mir niemanden vorstellen, der sich mit lebendiger Magie besser auskennt als Jimas. Sowohl er als auch Philot haben Errin untersucht. Sie ist so gesund, wie man von jemandem in ihrem Alter erwarten kann. Trotzdem wird sie schwächer und schwächer. Sie scheint ihren Lebenswillen verloren zu haben, Kordinian.«

»Sie trauert.« Kordinian nickte Gart zu. »Wie du, alter Freund. Auch du siehst nicht besonders gut aus, wenn ich das sagen darf.«

Gart stieß ein zischendes Lachen aus. »Was erwartest du? Wir sind alt. Ständig sterben irgendwelche alten Freunde von uns. Also hätte ich eigentlich erwartet, Ka’raks Tod besser zu verkraften. Doch ich habe mich geirrt.«

»Gart. Nachdem dein Sohn mit seinen beiden Freunden verschwunden ist, hast du dich um Verjak und Ka’rak bemüht. Sie waren für dich beinahe so etwas wie Enkelkinder. Du hast sie ausgebildet und jetzt sind sie erwachsen. Du solltest dir nicht die Schuld an Ka’raks Tod geben. Und deine Enkeltochter genauso wenig! Führe mich zu ihr. So sehr ich die Arbatmagie auch schätze, unsere menschliche Heilmagie ist Wege gegangen, an die kein einziger Arbat jemals gedacht hat. Einige Heiler in Mormund haben sich intensiv mit Krankheiten des Geistes beschäftigt.«

Gart horchte auf. Da er keine Begabung für Heilmagie besaß, verschwendete er nur selten einen Gedanken an diese Form der Magie. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass man überhaupt mit Magie auf den Geist eines Menschen einwirken konnte. »Ist es ihnen etwa gelungen, Verrückte zu heilen?«

Kordinian schüttelte den Kopf. »Nein. Eigentlich war das ihr Ziel, doch es hat sich bis jetzt als unmöglich erwiesen, Wahnsinn zu heilen, Allerdings ist es ihnen gelungen, einige sehr schwermütige Patienten davon abzuhalten, ihrem Leben ein Ende zu setzen.« Der grauhaarige Heiler zuckte die Achseln. »Vielleicht schaffe ich es ja, Errin genug Lebenswillen zu geben, um die Zeit der Trauer zu überstehen. Im Moment scheint deine Enkeltochter sich nichts sehnlicher zu wünschen als ihren Tod.«

»Du bist verrückt!«, explodierte Gart. »Mehr als einmal hat Errin bewiesen, dass sie eine Kämpferin ist. Sie würde sich niemals umbringen. Das ist undenkbar!«

»Gart. Du kannst mir ruhig glauben. Ich habe schon viele Menschen gesehen, deren Leben nach einem tragischen Unfall aus den Fugen geraten ist. Und besonders die sogenannten Kämpfer neigen dazu, aufzugeben, wenn sie ihren Lebensinhalt verlieren. Noch hungert Errin sich nur zu Tode. Doch früher oder später wird sie eine Möglichkeit finden, Ka’rak schnell zu folgen.«

»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren. Du musst sie dir ansehen!« Kordinians düstere Prognosen machten Gart Angst.

An der Tür zu Errins Kammer kam ihnen die schwarzhaarige Maona entgegen. Sie funkelte Gart mit ihren grünen Augen kampflustig an. »Gut, dass du endlich wieder da bist. Wer ist die schreckliche Frau, die du hier einquartiert hast? Tajana hätte ihr fast den Kopf abgerissen, als sie versucht hat, in Errins Zimmer zu gelangen.«

»Odella von Garvis. Sie ist eine Abgesandte des Hohen Rates. Aber was hatte sie in Errins Nähe verloren? Wollte sie etwa Errin in ihrem Zimmer belästigen?« Gart blieb wie angewurzelt stehen. »Und erst Tajana hat sie aufgehalten?«

Maona nickte zufrieden. »Dana war unruhig und in Errins Nähe wird die Kleine immer ruhig. Deshalb war Tajana auf dem Weg zu Errin. Diese … Odella? … ging so selbstbewusst auf die Tür zu, als würde dieses viel zu große Haus ihr alleine gehören. Tajana hat sie angesprochen und dann besaß diese Frau sogar die Frechheit, meine Tochter wie eine Dienerin anzuschnauzen, wer bei den Göttern das Kind sei, das sie in ihren Armen hielt.«

Kordinian schmunzelte amüsiert. »Ich glaube mich zu erinnern, dass euer Mann die Schwangerschaft eurer Tochter erwähnt hat. Wie alt ist Dana?«

»Die Kinder sind fast zwei Monde alt.« Jetzt schien Maona Kordinian erst zu bemerken. »Ihr müsst der Mann mit dem guten Wein aus Anwardat sein. Tanodus hat seit seinem Aufenthalt in Anwardat immer von dem Wein geschwärmt, den er bei euch getrunken hat.«

»Der bin ich wohl. Doch den Wein hat meine Frau ausgesucht, nicht ich. Odella muss befürchtet haben, eine Dienerin bringe Errin ihr Kind. Ich vermute, der Hohe Rat hat ihr klare Anweisungen erteilt, wie sie sich im Fall einer Schwangerschaft der Fürstin verhalten soll.«

Maona schnaubte. »Wäre das Mädchen doch nur schwanger. Dann würde sie sich nicht zu Tode hungern. Wenn das so weitergeht, erlebt sie den Frühling nicht mehr.«

»Hat sie wieder nichts gegessen?«, fragte Gart besorgt.

»Nein. Sie liegt nur wie eine Leiche da und starrt ins Leere. Eine Schande.«

»Vielleicht kann Kordinian ihr helfen, Maona. Aber wie endete Odellas Begegnung mit eurer Tochter?« Im Korridor gab es keine Anzeichen für die Benutzung von Magie. Allerdings war Tajana auch nicht unbedingt auf Magie angewiesen, um jemandem Schmerzen zuzufügen. Sie trug doch immer ein Messer bei sich.

»Hätte Tajana nicht Dana im Arm gehabt, wäre die Situation eskaliert. So hat sie Odella nur unmissverständlich klargemacht, dass sie in diesem Teil des Anwesens nichts verloren hat. Die Abgesandte war vernünftig genug, die Flucht zu ergreifen. Den Wachen und Dienerinnen, die Odella nicht aufgehalten haben, dürften allerdings noch die Ohren klingeln. Als Tajana mit ihnen wegen des Vorfalls gesprochen hat, lag Dana schon wieder friedlich schlafend in ihrem Bett. Sie musste sich also nicht zurückhalten und wurde so laut, dass sogar Errin kurz eine Reaktion gezeigt hat.«

»Bedauerlich«, stellte Gart resigniert fest. »Odella bedeutet Ärger und ich hätte mich gerne mit dem Hohen Rat auseinandergesetzt, weil Tajana eine mögliche Attentäterin vor den Räumen der Fürstin erwischt und mit einem Feuerball in Odoths Reich geschickt hat.«

»Gart. Das habe ich nicht gehört.« Kordinian war todernst. »Sie ist immerhin eine Abgesandte des Hohen Rates.«

»Nein. Sie ist eine verschlagene Schlange, die meiner Enkelin im Auftrag des Hohen Rates Raan stehlen will. Und Raan ist alles, was Errin von Ka’rak geblieben ist.«

»Gart. Niemand kann Errin die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit mit Ka’rak nehmen. Bevor du dich in einen aussichtslosen Kampf mit dem Hohen Rat stürzt, sollten wir zunächst nach Errin sehen.« Damit schob Kordinian Maona beiseite und betrat Errins Zimmer.

Bei Errins Anblick stiegen Gart Tränen in die Augen. Er hatte sie gesehen, als sie am Rande des Todes nach der Konfrontation mit Braodoth in Usils Zitadelle beinahe verblutet war. Und verglichen mit jetzt hatte sie damals lebendig ausgesehen. Es mochte an ihrer ungewohnten Haarfarbe liegen. Da die schwarze Farbe sich nur langsam aus ihren Haaren wusch, wirkte Errin noch blasser und ohne das langsame Heben und Senken ihrer Brust hätte man sie für eine Leiche halten können.

»Verdammt. Du hättest früher zu mir kommen sollen, Gart!« Kordinian eilte zu Errin, schlug die Decke zurück, fühlte ihren Puls und legte schließlich seine Hand auf Errins Stirn. Doch sie rührte sich nicht. Kordinians Lippen bewegten sich. Entweder fluchte er immer noch oder er wirkte die Magie, von der er erzählt hatte. Nach einer Ewigkeit, in der weder Gart noch Maona es wagten, einen Laut von sich zu geben, richtete Kordinian sich ächzend auf. Sein Gesicht war schweißnass und er konnte vor Erschöpfung kaum aufrecht stehen. »Ich habe alles für sie getan, was in meiner Macht steht.« Der Heiler blickte betrübt zu Boden. »Aber Gart. In Errin sieht es düster aus.«

»Wie meinst du das? Kannst du jetzt etwa Gedanken lesen?«

»Glücklicherweise nicht. Ich weiß, du kennst dich mit Heilungen nicht aus, Gart. Doch sogar du weißt, dass man zunächst die Verletzung des Patienten lesen muss. Erst nach der Analyse beginnt die Heilung mit der Wahl einer geeigneten Magie. Die Beschwörung, die ich zum Lesen von Errins geistigen Wunden benutzt habe, liefert mir einen schwachen Eindruck, wie verzweifelt sie ist. Und um ehrlich zu sein, grenzt es an ein Wunder, dass Errin überhaupt noch lebt. Diese Magie habe ich erst bei zwei meiner Patienten eingesetzt und einer von ihnen hat sich trotz meiner Mühen das Leben genommen. Allerdings ist Errin viel tiefer in die Dunkelheit hinabgestiegen als der Tote. Es tut mir schrecklich leid, alter Freund, aber falls Errin nicht aus eigener Kraft ins Leben zurückfindet, wird sie sterben.«

Gart begann unkontrolliert zu zittern. Die Götter und allen voran Sibita, die unberechenbare Göttin des Schicksals, konnten grausam sein. Erst schenkten sie ihm mit Errin die Familie, von der er geglaubt hatte, sie mitsamt seinem einzigen Sohn verloren zu haben. Er hatte zwar Ka’raks Mission in Kalados als Selbstmord bezeichnet, doch im Stillen war er überzeugt, der Junge würde einmal mehr triumphieren. Ja, nach der Geburt von Verjaks Kindern hatte er es sogar gewagt, von einer Zukunft mit eigenen Urenkeln zu träumen, die er zu Errins und Ka’raks Ärger verwöhnen wollte. Eine alte Weisheit besagte, dass man einem Geschenk Sibitas niemals trauen sollte.

»Errin wird zunächst schlafen. Und träumen. Dadurch wird die Verzweiflung ein wenig gelindert. Wenn sie aufwacht, wird es ihr besser gehen. Zumindest eine Zeitlang. Gelingt es ihr in dieser Zeit nicht, mit ihrer Trauer zurechtzukommen, beginnt ihr Absturz in die Finsternis erneut. Allerdings kann sie dann keine Magie der Welt wieder wecken, Gart. Zumindest keine, von der ich wüsste.« Von Kordinians Vorfreude auf das Erlernen des Springens war nichts mehr übrig. »Ich würde dir gerne versprechen, dass sie sich erholt und ein langes, glückliches Leben vor ihr liegt, sobald sie über Ka’raks Tod hinwegkommt. Doch der Tod ihres Mannes hat eine Leere in Errin hinterlassen, die wahrscheinlich nichts ausfüllen kann. Beim Lesen hat es sich wie eine Wunde angefühlt, durch die Errins Lebenswille hinausströmt.«